«Historische Zäsur»: Schweizer Medien besorgt über Wahlsieg Melonis in Italien
Die Wahlen in Italien haben auch in den Schweizer Medien grosses Echo gefunden. Im Vordergrund steht die Frage nach dem wahren politischen Gesicht der Wahlsiegerin Giorgia Meloni, der Chefin der rechtsgerichteten Partei Fratelli d'Italia.
«Liebäugeln die Italienerinnen und Italiener hundert Jahre nach Mussolinis Marsch auf Rom also wieder mit dem Faschismus? Droht in Rom erneut ein autoritäres Regime, das ganz Europa destabilisieren könnte?»
Die Frage, die die Neue Zürcher Zeitung stellt, wird sicherlich von vielen Beobachtern im Ausland geteilt. Sie fragen sich besorgt, wie Italien unter der Führung einer Partei mit neofaschistischen Wurzeln aussehen werde.
Für die rechtsliberal ausgerichtete Neue Zürcher Zeitung ist die Antwort klar: Giorgia Meloni und ihre Verbündeten «werden Italien nicht in eine neue faschistische Diktatur verwandeln; das Land ist heute ganz anders als in den 1920er-Jahren, seine demokratischen Strukturen sind gefestigt und Italien ist politisch und wirtschaftlich stark in Europa integriert».
Nicht Sympathie-, sondern Protestwahl
Laut NZZ konnten Giorgia Meloni und ihre Partei vor allem die grosse Unbeständigkeit im Verhalten der Wählerschaft ausnutzen, die sich im letzten Jahrzehnt gezeigt hat: Italiener und Italienerinnen wählten sie «nicht wegen ihrer faschistischen Wurzeln, sondern um gegen diejenigen zu protestieren, die bisher regiert haben».
So analysiert das Schweizer Fernsehen SRF:
Diese extreme Volatilität – unter der die Demokratische Partei bereits in der Vergangenheit und bei dieser Wahl die Lega und die 5-Sterne-Bewegung gelitten hätten, hänge nun wie ein Damoklesschwert auch über Giorgia Meloni, schreibt die NZZ.
Die grossen Versprechungen aus dem Wahlkampf werde sie kaum einlösen können. Jetzt werde sie in einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld regieren und unpopuläre Entscheidungen treffen müssen. Wegen des Krieges in der Ukraine steht Italien bereits die nächste Rezession bevor. Ihre Anhänger, die zumeist der Mittel- und Unterschicht angehören, würden am meisten unter den steigenden Energiepreisen leiden. Die Entzauberung bedrohe also auch Giorgia Meloni, so die Zeitung.
Die Westschweizer Zeitungen 24 Heures und Tribune de Genève bieten eine Analyse des französischen Politikwissenschaftlers Dominique Reynié. Der Titel lautet: «Populismen werden in Europa unvermeidlich». Darin zieht der Experte eine Parallele zwischen dem Sieg der Partei Melonis in Italien und dem Sieg der extremen Rechten in Schweden vor wenigen Wochen.
«In Wirklichkeit fühlten sich die Wähler:innen gezwungen, sie zu wählen, weil die Regierungsparteien die Legitimität bestimmter Anliegen nicht anerkennen: die Regulierung der Migration, die Integration, die Sicherheitsfragen», sagt der Professor vom Institut für politische Studien in Paris.
Noch nie so weit rechts
Für die Medien der Tamedia-Gruppe befindet sich Italien in einer «historischen Zäsur»: Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs habe das Parlament noch nie so weit rechts gestanden wie das künftige.
Eine Zäsur, die auch Auswirkungen in Brüssel haben werde, «denn noch nie in der Geschichte der Europäischen Union hatte ein grosses Gründungsland eine Regierung mit rechtsextremen Tendenzen», so die Tamedia-Medien.
«Die Beziehungen zu Brüssel werden sich abkühlen», befürchtet die NZZ. Aber da das hoch verschuldete Italien auf Milliarden aus dem EU-Wiederaufbaufonds angewiesen sei, gebe es wenig Spielraum für ernsthafte antieuropäische Provokationen oder Haushaltsabenteuer. Und angesichts der «unrealistischen» Versprechen im Wahlkampf «wird dies das Hauptproblem von Giorgia Meloni sein».
Das wahre Gesicht der Neuen
Die Schweizer Medien fragen, welches das wahre Gesicht Giorgia Meloni sei. Das gemässigte, fast pro-europäische aus der ersten Phase des Wahlkampfes? Oder dasjenige einer nationalistischen Politik, verquickt mit einem feurigen Temperament und vielen Verschwörungstheorien?
Für den «Blick» besteht kein Zweifel: «Machen wir uns nichts vor! Giorgia Meloni ist die Anführerin einer neofaschistischen Bewegung. Unter ihren Anhängern befinden sich auch gewalttätige Neonazis, von denen sie sich nur halbwegs distanziert».
Der Politikwissenschaftler Dominique Reynié ist vorsichtiger. Giorgia Meloni und ihre Partei hätten zwar ihre Wurzeln in der extremen Rechten. Das bedeute jedoch nicht, dass dies immer noch der Fall sei. Ihr Programm sei ein rechtskonservatives Programm, aber pro-europäisch und pro-atlantisch.
«Wir befinden uns in einer neuen Phase in der Geschichte der Populismen, die nun einen sehr starken Druck auf die nationalen politischen Systeme ausüben, bis hin zur Beteiligung an einer Regierungskoalition. Je weiter sie jedoch fortschreiten, desto normaler werden sie», glaubt Reynié.
Die Auswirkungen auf den Krieg
In einer weiteren Analyse befasst sich die NZZ mit einer anderen grundlegenden Frage: Kann die europäische und atlantische Front ihre Einigkeit und Geschlossenheit bewahren, die sie bisher in der Unterstützung der Ukraine gegen die Invasion Russlands auszeichneten?
Trotz aller Beteuerungen von Giorgia Meloni, die sich stets als pro-atlantisch bezeichnet hat, hat die NZZ ihre Zweifel, vielmehr sieht sie die italienischen Wahlen als einen «Segen für Russland».
Giorgia Meloni sei im Gegensatz zu Salvini und Berlusconi «für Moskau schwieriger zu lesen» und ihre Pro-NATO-Äusserungen gefielen Russland nicht, heisst es im NZZ-Leitartikel. Gleichzeitig könne der Kreml jedoch hoffen, dass Giorgia Meloni die EU einem Stresstest unterziehe, falls sie tatsächlich Premierministerin werde.
Russland habe daher gute Chancen, dass Italien wieder zu dem werde, was Winston Churchill einst den «weichen Unterbleib Europas» genannt habe. Und damit zu einem Einfallstor für Kreise werde, die dem Alten Kontinent nicht wohlgesonnen seien. Dieser Gefahr scheine sich die herrschende Klasse Italiens nicht wirklich bewusst zu sein, so der Fingerzeig der Zeitung.
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