Warum afghanische Geflüchtete in der Schweiz kaum Asyl erhalten
Die Menschenrechtslage in Afghanistan verschlechtert sich unter dem Taliban-Regime laufend. Trotzdem weisen die Schweizer Behörden weiterhin die überwiegende Mehrheit der schutzsuchenden Afghan:innen ab – eine Politik, die in krassem Gegensatz zur Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge in der Schweiz steht.
Aresu Rabbani schätzt, dass sie seit der Eroberung Kabuls durch die Taliban im August 2021 mehr als Tausend Afghan:innen geholfen hat, ein humanitäres Visum für die Schweiz zu beantragen.
Den meisten von ihnen war es gelungen, über die Grenze in den Iran oder nach Pakistan zu gelangen – mit einem humanitären Visum könnten sie sicher und legal in die Schweiz kommen und Asyl beantragen.
Rabbani ist 2008 aus Afghanistan geflohen, nachdem ihr Vater von den Taliban inhaftiert worden war. Sie setzte alles daran, die Chancen auf einen positiven Bescheid zu erhöhen – sie ging sogar so weit, das Visumantragsformular auf Farsi zu übersetzen.
«Ich habe Tag und Nacht versucht, ihnen zu helfen», sagt die Zürcherin, «denn ich weiss, was es bedeutet, in dieser Situation zu sein.» Trotz ihrer Bemühungen hat keine einzige Person, der sie beim Antragstellen geholfen hat, jemals ein Visum vom Staatssekretariat für Migration (SEM) erhalten.
Das gilt auch für ihre Cousine in Herat, deren Haus von Taliban-Kämpfern geplündert wurde. Diese hatte sich für die Rechte der Frauen eingesetzt, was sie zur Zielscheibe der Extremisten machte.
«Wir schickten alle Dokumente, die ihren Antrag unterstützen würden, aber wir bekamen nie eine Antwort», sagt Rabbani, die ehrenamtlich für den Verein Asylex tätig ist. Rabbani unternahm mehrere erfolglose Versuche, den Antrag bei den Schweizer Behörden weiterzuverfolgen, bevor sie schliesslich aufgab. Ihre Cousine bleibt mit ihren beiden kleinen Kindern im Iran.
Der Fall Afghanistan zeige deutlich den «fehlenden politischen Willen in der Schweiz», internationalen Schutz zu bieten, hält das Schweizerische Rote Kreuz in einem Bericht aus dem Jahr 2021Externer Link fest.
Während der Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011 die Regierung schliesslich dazu veranlasste, mehr als 5000 Flüchtlinge aufzunehmen, widersetzte sie sich bisher den Forderungen nach einer erleichterten Einreise für Afghan:innen. Von 1759 Anträgen auf ein humanitäres Visum, die von Afghan:innen im Jahr 2022 gestellt wurden, hat das SEM nur 98 bewilligt – eine Anerkennungsquote von 5,5%.
Unterdessen erhielten nur 13% der afghanischen Asylsuchenden in der Schweiz den Flüchtlingsstatus. Das liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt von 46%Externer Link (EU-Staaten plus Norwegen und die Schweiz).
Schwierig zu erfüllende Kriterien
Da die Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen systematisch beschränken und Jagd auf Menschen machen, die für westliche Verbündete oder das frühere Regime gearbeitet haben, ist die Nachfrage nach Schutz unter der afghanischen Bevölkerung gross.
Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR)Externer Link sind seit August 2021 über 1,6 Millionen Menschen in die Nachbarländer geflohen – vor allem in den Iran und nach Pakistan. Afghan:innen waren 2022 mit rund 129’000 Anträgen die zweitgrösste Gruppe von Asylsuchenden in EuropaExterner Link.
Rabbani wollte den Afghan:innen helfen, die sich in Sicherheit bringen wollen, indem sie ihnen zeigte, wie sie ein humanitäres Visum beantragen können. Seit 2013 ist es möglich, ein Visum für die Schweiz aus humanitären Gründen bei einer Schweizer Botschaft oder einem Konsulat zu beantragen – ein Weg zum Schutz, den die EU-Länder derzeit nicht bietenExterner Link.
Antragstellende müssen eine «unmittelbare, konkrete und ernsthafte Bedrohung für Leib und Leben» nachweisen – bei Afghan:innen muss die Bedrohung «individuell und konkret» sein. Die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe (wie Frauen und Mädchen) reicht also nicht ausExterner Link. Zudem müssen sie einen «engen und aktuellen Bezug zur Schweiz» haben, etwa durch Verwandte oder einen früheren Aufenthalt im Land.
Das SEM prüfe in jedem Fall, ob diese Kriterien gemäss Gesetz erfüllt sind, sagt Sprecher Samuel Wyss gegenüber SWI swissinfo.ch via E-Mail. Flüchtlingshilfsorganisationen halten die Anforderungen jedoch für zu restriktiv.
«Wir würden es begrüssen, wenn die Schwierigkeiten der Antragstellenden, zum Beispiel bei der Beschaffung gültiger Dokumente aus ihrem Heimatland, stärker berücksichtigt würden […]», sagt Martin Rechlin, Sprecher des UNHCR Schweiz.
Dazu gehören nicht nur Identitätsnachweise oder Pässe, sondern auch Beweise für eine Verfolgung. Um zu zeigen, dass ihr Leben in Gefahr war, legte Rabbanis Cousine einen Drohbrief vor, den sie von den Taliban erhalten hatte.
Nach Angaben des Roten Kreuzes werden solche Briefe jedoch nicht mehr als Beweismittel anerkanntExterner Link, da sie leicht gefälscht werden können. Wyss schreibt, dass «der Wert der [vorgelegten] Beweise von verschiedenen Faktoren abhängt, zum Beispiel von ihrer Aktualität, ihrer Unveränderlichkeit und davon, ob sie mit der betreffenden Person in Verbindung gebracht werden können».
Wenn das SEM nach anschaulicheren Beweisen dafür suche, dass jemand ein direktes Ziel war, sei das einfach unrealistisch, sagt Rabbani: «Wenn Sie Fotos oder Videos davon haben, was Ihnen passiert ist, dann sind Sie wahrscheinlich schon tot.»
Da die Schweiz ihre Botschaft in Kabul im August 2021 geschlossen hat, müssen die Afghan:innen auch erst das Land verlassen, um ihr Gesuch bei einer Schweizer Vertretung im Ausland einzureichen – ein Umstand, der ihnen zum Verhängnis zu werden scheint.
«Die Erfahrung hat gezeigt, dass der entscheidende Faktor für die Verweigerung [eines humanitären Visums] oft die Tatsache ist, dass sich die Afghan:innen in einem Drittland aufhalten, in dem sie zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht in unmittelbarer Gefahr sind», sagt Wyss.
Für viele Flüchtlinge ist die Sicherheit an Orten, die mit der Bewältigung des Zustroms von Flüchtlingen zu kämpfen haben, jedoch keine Selbstverständlichkeit.
Obwohl das UNHCR den Iran dafür lobt, dass fliehende Afghan:innen aufgenommen werden, beherbergt das Land bereits eine der grössten Flüchtlingspopulationen der Welt. In den letzten Monaten hat Pakistan, das die UNO-Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert hat, Berichten zufolge Afghan:innen wegen illegaler Einreise abgeschoben oder inhaftiertExterner Link.
Leben in der Schwebe
Da die Chancen, ein humanitäres Visum zu erhalten, so gering sind, hilft Rabbani jetzt denjenigen, welche die Schweiz erreicht, aber keinen Flüchtlingsstatus haben.
Etwas mehr als die Hälfte der 4138 afghanischen Asylsuchenden erhielt im vergangenen Jahr eine vorläufige Aufnahme. Diesen Status erhalten Personen, welche die Kriterien für Asyl nicht erfüllen, aber nicht abgeschoben werden können, oft aufgrund von Konflikten in ihrem Heimatland.
Während das SEM die «Schutzquote» (Flüchtlingsstatus plus vorläufige Aufnahme) für Afghan:innen auf 72% beziffert, wird die einjährige verlängerbare Bewilligung (Ausweis F) für vorläufig Aufgenommene seit langem von Interessengruppen kritisiert.
«Die vorläufige Aufnahme ist in den Augen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe problematisch», sagt Lionel Walter, Sprecher der Flüchtlingshilfe. «Sie schränkt die Rechte von Menschen ein, die in Wirklichkeit oft dauerhaft in der Schweiz bleiben.»
Der befristete Charakter der Bewilligung schreckt potenzielle Arbeitgeber abExterner Link. Im Gegensatz zu anerkannten Flüchtlingen sind Menschen mit einer F-Bewilligung zudem mit Einschränkungen bei Reisen ins Ausland, bei der Sozialhilfe und bei der Familienzusammenführung konfrontiert.
Rabbani hilft diesen Afghan:innen, eine B-Bewilligung zu erhalten (die sie nach fünf Jahren mit einer F-Bewilligung beantragen können), die ihnen die gleichen Rechte wie Flüchtlingen zugesteht.
Für Rabbani, die nach jahrelangem Leben mit einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung 2016 die Schweizer Staatsbürgerschaft erhielt, sind diese Bemühungen eine Herzensangelegenheit: Ihre Mutter, Mahjan Rabbani, hat seit ihrer Ankunft im Jahr 2008 eine F-Bewilligung.
Seither ist ihr Leben auf Eis gelegt. «Ich mag in der Schweiz physisch sicher sein, aber ich fühle mich wie eine Gefangene», sagt sie und fügt hinzu, dass ihre vorläufige Aufnahme bedeutet, «dass ich nie sicher bin, wann oder ob ich dauerhaft hier bleiben kann.»
Diese Ungewissheit und die Tatsache, dass es ihr nicht möglich ist, eine Arbeit zu finden, Wurzeln zu schlagen oder gar in einen anderen Kanton zu ziehen, um näher bei ihren Kindern zu sein, haben Mahjan Rabbani schwer zu schaffen gemacht. Sie leidet nun unter Angstzuständen und Depressionen.
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat sich die Notlage der Inhaber:innen von F-Bewilligungen noch deutlicher zugespitzt. Bislang haben mehr als 76’000 Kriegsflüchtlinge einen besonderen Schutzstatus (S) erhalten. Das bedeutet, dass sie das reguläre Asylverfahren überspringen und sofort Zugang zu Arbeitsplätzen, Unterkünften und Unterstützungsleistungen erhalten können.
Eine Expert:innengruppe, die im Auftrag des Justizministeriums die S-Genehmigung bewertet hat, räumte ein, dass es nun eine rechtliche Ungleichbehandlung zwischen Ukrainer:innen und Asylbewerbenden anderer Nationalitäten gibt, eine Tatsache, die Walter als «auffällig» bezeichnet.
«Viele Flüchtlinge, die aus anderen Ländern als der Ukraine in die Schweiz kommen, sind ebenfalls auf der Flucht vor Kämpfen und Bomben», sagt er. «Eine Ungleichbehandlung gegenüber S-Status-Inhaber:innen ist daher nicht gerechtfertigt.»
Heikles Thema im Wahljahr
Die Politik der Schweiz ist auch nicht im Einklang mit der EU, mit der sie Teile ihres Asylsystems harmonisiert hat. Menschen, die vor Konflikten fliehen und in der EU kein Asyl erhalten, bekommen in der Regel subsidiären Schutz, der mit den gleichen Rechten wie der Flüchtlingsstatus verbunden ist.
Dem Schweizer Parlament liegen derzeit Anträge vor, die F-Bewilligung zugunsten eines dem subsidiären Schutz ähnlichen Status abzuschaffen. Eine Idee, die das UNHCR seit langem unterstützt. Die Regierung hat jedoch empfohlen, diese Anträge abzulehnen, da Pläne im Gange sind, einige Beschränkungen der F-Bewilligung aufzuheben, unter anderem bei Reisen und Kantonswechseln.
Jede Diskussion über eine grosszügigere Flüchtlingspolitik wird bis nach den Parlamentswahlen im Herbst warten müssen. Die Migration wird ein wichtiges Wahlkampfthema sein, und die Politiker:innen werden wahrscheinlich vorsichtig sein, wenn es darum geht, Änderungen vorzuschlagen, welche die Zahl der Flüchtlinge oder Asylsuchenden in die Höhe treiben könnten. Doch Mahjan Rabbani bleibt optimistisch, auch wenn ihre bisherigen Anträge auf eine B-Genehmigung alle abgelehnt wurden.
«Ich halte an der Hoffnung fest, dass es eines Tages besser wird – dass ich ohne Angst in mein Heimatland zurückkehren kann», sagt sie, «oder dass ich in der Schweiz ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit finden werde.»
Übertragung aus dem Englischen: Janine Gloor
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