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Warum das Schwarzmeer-Getreideabkommen so wichtig ist

Frachtschiffe warten im Schwarzen Meer
Das Schwarzmeer-Getreideabkommen ermöglichte den Export von 32,9 Millionen Tonnen an Nahrungsmitteln, hauptsächlich Mais und Weizen, in 45 Länder auf drei Kontinenten. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved.

Am 17. Juli kündigte Russland seinen Rückzug aus dem Schwarzmeer-Getreideexportabkommen an. Es war ein seltener Fall von Zusammenarbeit zwischen Moskau und Kiew. Die Folgen könnten die anhaltende Nahrungsmittelkrise in Afrika verschärfen. Was Sie darüber wissen sollten.

Der Kreml kündigte am 17. Juli an, seine Teilnahme am Schwarzmeer-Getreideexportabkommen auszusetzen. Dank dem bereits dreimal verlängerten Abkommen war es Kiew möglich, Getreide aus den von Russland blockierten ukrainischen Häfen über einen sicheren Korridor durch das Schwarze Meer zu exportieren.

UNO-Generalsekretär António Guterres, der das Abkommen massgeblich vorangetrieben hatte, äusserte sein «tiefes Bedauern» über Russlands Entscheid.

Das Schwarzmeer-Getreideabkommen sei «ein Rettungsanker für die globale Ernährungssicherheit und ein Leuchtfeuer der Hoffnung in einer unruhigen Welt» gewesen, in einer Zeit, in der weltweit bis zu 783 Millionen Menschen hungerten. Diese würden den Preis dafür bezahlen, fügte er hinzu.

«Die Schwarzmeerabkommen sind seit heute nicht mehr in Kraft», sagte ein Sprecher des Kremls am 17. Juli. Er fügte jedoch an: Sobald die russischen Forderungen erfüllt seien, «wird die russische Seite zur Umsetzung des Abkommens zurückkehren, und zwar sofort».

Was ist das Schwarzmeer-Getreideabkommen?

Der so genannte «Schwarzmeer-Getreidedeal» wurde im Juli 2022 zwischen den Vereinten Nationen und der Türkei ausgehandelt. Er besteht aus zwei getrennten Vereinbarungen.

Die Schwarzmeer-Getreideinitiative (BSGI) zwischen der Ukraine, Russland, der Türkei und den Vereinten Nationen galt für einen Zeitraum von 120 Tagen, der bisher mehrmals verlängert wurde.

Die zweite Vereinbarung, das Memorandum of Understanding (MoU) zwischen Russland und den Vereinten Nationen, ist für einen Zeitraum von drei Jahren gültig.

Ziel des Abkommens ist es, die weltweite Nahrungsmittelkrise zu lindern. Klimawandel, Konflikte und die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie haben die weltweiten Nahrungsmittelpreise in die Höhe getrieben und die Angst vor einer Hungersnot in Afrika und im Nahen Osten geschürt.

Die Lebensmittelpreise erreichten ihren Höchststand im März 2022, einen Monat nach dem Einmarsch Russlands, eines grossen Getreide- und Düngemittelproduzenten, in die Ukraine, einem der grössten Getreideexporteure. Syrien, Jemen und Somalia gehörten zu den Ländern, die bis dahin mehr als die Hälfte ihres Weizens aus der Ukraine und Russland importierten.

Externer Inhalt

Die BSGI ermöglichte die sichere Ausfuhr von ukrainischem Getreide mit Handelsschiffen durch einen Seekorridor im Schwarzen Meer. Das MoU verpflichtet die UNO, Moskau bei der Überwindung von Hindernissen für die eigenen Nahrungsmittel- und Düngemittelexporte zu unterstützen.

Warum sind die Gespräche ins Stocken geraten?

Russland hat wiederholt damit gedroht, aus dem Abkommen auszusteigen, weil es seinen Teil der Vereinbarung nicht erfüllt sieht.

Obwohl russische Lebensmittel- und Düngemittelexporte von den Sanktionen des Westens ausgenommen sind, behauptet Moskau, dass Beschränkungen bei Zahlungen, Logistik und Versicherung seine Lieferungen effektiv behindert hätten.

Russlands Weizenexporte haben im vergangenen Jahr zugenommen, aber seine Düngemittelexporte – namentlich Ammoniak und Kaliumdünger – sind zurückgegangen.

Am 17. Juli sagte Guterres, er sei sich «einiger Hindernisse bewusst, die im Aussenhandel mit russischen Nahrungsmitteln und Düngemitteln noch bestehen».

Er hob aber auch die greifbaren Fortschritte hervor, welche die Vereinten Nationen erzielt hätten. Dazu gehören etwa Ausnahmen von den Sanktionen und ein spezieller Zahlungsmechanismus für die russische Landwirtschaftsbank ausserhalb des internationalen Zahlungssystems Swift.

Moskau fordert von der UNO unter anderem, die russische Landwirtschaftsbank wieder an Swift anzuschliessen und den Export von Ammoniak aus dem Schwarzen Meer über eine nicht mehr funktionierende Pipeline von Russland in die Ukraine wieder aufzunehmen.

Im Oktober 2022 hatte Russland seine Teilnahme an dem Abkommen als Reaktion auf einen Drohnenangriff auf seine Flotte auf der Krim kurzzeitig ausgesetzt.

Ein russischer Sprecher sagte, der Entscheid, sich aus dem Abkommen zurückzuziehen, habe nichts mit dem Anschlag auf die Brücke zwischen Russland und der Krim zu tun, der an jenem Tag verübt wurde, als das Abkommen auslief. Russland hat die Ukraine beschuldigt, hinter dem Anschlag zu stecken, Kiew hat dies nicht bestätigt.

Russland hat sich auch darüber beschwert, dass nicht genügend Getreide, das über den Korridor exportiert wird, an ärmere Länder geliefert wird.

Wie der Schwarzmeer-Getreidedeal zustande kam

  • Anfang letzten Jahres unterbrach die russische Invasion in der Ukraine die Lieferketten und trieb die Preise für Nahrungsmittel und Düngemittel auf Rekordhöhe. Besonders betroffen war das Horn von Afrika, das von Nahrungsmittelimporten abhängig ist und unter einer schweren Dürre leidet.
  • Nach wochenlangen Verhandlungen hinter den Kulissen legten die Vereinten Nationen im Juli 2022 einen Plan vor, der es der Ukraine ermöglichen sollte, ihre Getreideexporte über das Schwarze Meer wieder aufzunehmen, dessen Umsetzung sich jedoch als kompliziert erwies.
  • Im November 2022 wurde das Getreideabkommen um weitere vier Monate verlängert, nachdem Russland mit dem Ausstieg gedroht hatte. Einige Fachleute vermuteten damals, dass Moskau die implizite Unterstützung der blockfreien Staaten in der UNO nicht verlieren wollte.

Was wurde durch das Abkommen erreicht?

Das Schwarzmeer-Getreideabkommen ermöglichte den Export von 32,9 Millionen Tonnen an NahrungsmittelnExterner Link, hauptsächlich Mais und Weizen, in 45 Länder auf drei KontinentenExterner Link.

Davon gingen 57% in Länder der Dritten Welt, aber nur 20% in Länder, in denen die Menschen niedrige und mittlere Einkommen haben.

Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) trug die Rückkehr eines der weltweit grössten Getreideexporteure auf die Weltmärkte zu einem Rückgang der weltweiten Nahrungsmittelpreise um 11,6% seit Juli 2022 bei.

Die weltweit grösste humanitäre Organisation, das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP), lieferte im Rahmen des Abkommens mehr als 725’000 Tonnen Weizen an die Menschen in den Krisengebieten in Afghanistan, am Horn von Afrika und im Jemen.

Bereits vor der russischen Invasion bezog das WFP mehr als die Hälfte seiner Getreidelieferungen aus der Ukraine. Bis Juli wurden 80% der Getreidekäufe des WFP im Rahmen der Initiative getätigt.

«Ein Zusammenbruch des Abkommens würde Ostafrika sehr, sehr hart treffen», sagte Dominique Ferretti, WFP-Nothilfechef in der Region, im Juni vor Presseleuten in Genf. Millionen von Menschen in der Region leiden Hunger.

Das letzte Schiff verliess die Ukraine im Rahmen des Abkommens am 16. Juli. In den letzten Monaten waren die Lebensmittelexporte im Rahmen der Initiative zurückgegangen, da die Dauer der Inspektionszeiten – gemeinsam durchgeführt von ukrainischen, russischen, türkischen und UNO-Fachleuten – gestiegen war und ein ukrainischer Hafen von der Initiative ausgeschlossen wurde.

«Die Umsetzung basiert auf einem Konsens, daher müssen alle Parteien sich über das Tempo der Operation einig sein», erklärte die UNO damals.

Wie geht es weiter?

«Russlands Entscheid kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Es ist ein kritisches Datum, weil dann die Ernte beginnt», sagte Maximo ToreroExterner Link, Chefökonom der FAO.

Er warnte davor, dass ein Scheitern des Abkommens zu einem «Anstieg der Getreidepreise» führen würde. Die Weizenpreise begannen am 17. Juli denn auch zu steigen.

Kurz nach der Ankündigung, aus dem Abkommen auszusteigen, erklärte Russland, es könne die Sicherheit der Schiffe im nordwestlichen Schwarzen Meer nicht mehr garantieren. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski kündigte an, die Getreideexporte auch ohne russische Beteiligung fortsetzen zu wollen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, einer der Hauptinitiatoren des Abkommens, blieb optimistisch, dass eine Lösung gefunden werden könne: «Trotz der heutigen Erklärung glaube ich, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Fortsetzung dieser humanitären Brücke wünscht», sagte er kurz nach dem Rückzug Russlands. Er werde noch in dieser Woche mit seinem russischen Amtskollegen sprechen und ihn im August treffen.

Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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