Das Beratungsvirus: Die heikle Rolle von Consulting-Firmen in der Pandemie
Das italienischsprachige Radio und Fernsehen RSI hat in einer grossen Recherche die zweifelhafte Rolle von Beratungsunternehmen während der Pandemie aufgearbeitet. Auf unangenehme Fragen, die daraus folgen, reagiert die Schweizer Regierung nicht.
Wie handhaben Beratungsfirmen ihren Interessenkonflikt, wenn sie für einen Impfstoffhersteller arbeiten und gleichzeitig einer Regierung bei der Auswahl eines Vakzins helfen sollen?
Und speziell: Wie sieht das Ganze aus, wenn es sich dabei um die Regierung der Schweiz handelt?
Für den Beitrag «Il Virus delle Consulenze» setzte RSI – das öffentlich rechtliche Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz, das wie SWI swissinfo.ch zur SRG SSR gehört – an genau diesem Punkt an. Und traf auf eine Branche, die global in allen Wirtschaftsbereichen vertreten und vielleicht gerade darum wenig transparent ist. Insbesondere bleibt unsichtbar, wer die Kund:innen eines Beratungsunternehmens sind. Es ist eine gewollte Diskretion, den Firmen Fragen zu stellen, bleibt deshalb aussichtslos.
Beratung für über eine Million zu Impfstoffbeschaffung
Dabei gäbe es durchaus Argumente für eine Rechenschaftspflicht. Die globalen Beratungsunternehmen sind in den letzten Jahrzehnten zu Akteuren in der Politik geworden. Sie arbeiten mit Regierungen, mit Demokratien und Autokratien in der ganzen Welt zusammen, mit supranationalen Gremien wie der Europäischen Kommission, internationalen Gremien wie der Welthandelsorganisation und mit UN-Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation.
Die Pandemie hat die Situation akzentuiert. Während sich Millionen von Menschen mit dem Covid-Virus infizierten, hat das «Beratungsvirus» Institutionen weltweit erfasst, auch in der Schweiz. Zwei Beratungsfirmen unterstützten hier das Bundesamt für Gesundheit bei Auswahl und Kauf der Impfstoffe gegen Covid: McKinsey & Company und KPMG. Kostenpunkt für die Beratungen: 535’000 respektive 822’000 Franken.
RSI ist es gelungen, die Verträge mit den Unternehmen einzusehen. Zum ersten Mal wird dadurch sichtbar, welche und wie viele potenzielle Interessenkonflikte bestanden haben. Eine Schlüsselrolle bei der Auswahl der Impfstoffe spielte die im Bundesamt eingesetzte Arbeitsgruppe «Impfstoffbeschaffung», in der mehrere externe Expert:innen mitwirkten.
Darunter Andrin Oswald, ehemaliger Novartis-Mitarbeiter, ehemaliger Direktor für Industriepartnerschaften bei der Bill & Melinda Gates Foundation und ehemaliger McKinsey-Berater. Und Lorenz Borer, der eine Karriere in der Pharmaindustrie hinter sich hat. Er ist heute Gründer der Ein-Mann-Firma Health Value Consulting und seit November 2022 Direktor von Novavax Schweiz.
Bundesrat ignoriert Anfragen zu McKinsey und KPMG
Wie kann man sicher sein, dass die von McKinsey gelieferten Informationen nicht dazu dienten, die Entscheidung des Bundes zu beeinflussen? Andrin Oswald antwortet: «Erstens muss man Vertrauen haben, nicht unbedingt in die Firma, sondern in die Person (…) zweitens muss man, nun ja, nicht vertrauen!» Es ist, als wollte er sagen: Vertrauen ist gut, nicht vertrauen ist besser. Und genau hierin liegt das Problem.
Sicher ist, dass der Bund für den Rat von McKinsey rund eine halbe Million Franken ausgegeben hat.
Wie aber ist es möglich, dass Lorenz Borer, eines der Mitglieder der Arbeitsgruppe, Direktor von Novavax Schweiz wird? Also zum lokalen Chef genau jener Firma, deren Impfstoff der Bund acht Monate zuvor gekauft hat, als Borer noch in der Arbeitsgruppe sass?
Es ist eine Frage, die RSI auch dem Bundespräsidenten und Vorsteher des Innendepartements, Alain Berset, gestellt hat. Dieser hat trotz wiederholter Anfragen nicht reagiert.
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Die McKinsey-Affäre
Der auffälligste Fall zweifelhafter Beratungen spielte sich in Frankreich ab. Hier geriet Präsident Emmanuel Macron in ein Ermittlungsverfahren der Finanzstaatsanwaltschaft, das von der Presse «McKinsey-Affäre» getauft wurde. Zuvor hatte ein Untersuchungsausschuss des französischen Senats das Ausmass der Probleme aufgedeckt.
Nicht viel besser sieht es in Grossbritannien, in Kanada, Australien, Südafrika und den Vereinigten Staaten aus, wo es seit Jahren Ermittlungen, Gerichtsverfahren und millionenschwere Vergleiche gibt. Insbesondere gegen die renommierteste, aber auch umstrittenste Beratungsfirma: McKinsey & Company.
Die Europäische Kommission gab von 2017 bis 2021 mehr als 1 Milliarde Euro für Beratungen durch die sogenannten Big Four – das sind Deloitte, Ernst & Young, KPMG und PricewaterhouseCoopers – und die Big Three – McKinsey & Company, Boston Consulting Group und Bain & Company – aus. Die Beratungsfirmen wurden in EU-Erweiterungsprojekte einbezogen, in die Migrations- und Ausssenpolitik, in Reformprojekte und die Planung der Normalisierung nach der Pandemie.
Was steckt hinter diesen hoch dotierten Aufträgen? RSI hat den italienischen Ökonomen Mario Nava, den bei der europäischen Kommission als Direktor Hauptzuständigen für strukturelle Reformen, dazu befragt.
Dass Beratungsunternehmen und Regierungen auf der ganzen Welt zusammenarbeiten, ist ein Phänomen der letzten Jahrzehnte. In der Kollaboration finden sehr unterschiedliche Akteur:innen zusammen. Diejenigen, die regieren, vom Volk gewählt und verpflichtet sind, im Interesse desselben zu handeln, und diejenigen, deren legitimes Ziel es ist, Profit zu machen.
Dabei werden die Beratungsfirmen als Prüferinnen von und Informationslieferantinnen für politische Entscheidungen zunehmend unentbehrlich. Viele Wissenschaftler:innen, die sich mit dem Phänomen befassen, sprechen von einer «Schattenregierung», um die Rolle zu beschreiben, die die Beratungsfirmen übernommen haben. So auch der Investigativ-Reporter der New York Times und dreifache Pulitzer-Preisträger Walt Bogdanich, den RSI für seinen Beitrag Interview hat.
Wer ist die Regierung?
Die amerikanische Politologin Janine Wedel fragt in ihrem Buch «Unaccountable: How the establishment corrupted our finances, our freedom and our politics and created an alien class» rhetorisch: «Wer ist die Regierung?» Heute werde sie tagtäglich durch Auftragnehmer, Beratungsfirmen, Denkfabriken und quasi-offizielle Einrichtungen ersetzt, die «ein zunehmend verstreutes und fragmentiertes Regierungssystem bilden».
Es ist ein Phänomen, das über die nationale Ebene hinausgeht. Es hat sich nicht nur in supranationalen Gremien wie der Europäischen Kommission etabliert, sondern auch in vielen UN-Agenturen und in deren Umfeld. Das gilt für die Welthandelsorganisation, deren Direktorin, Ngozi-Okonjo Iweala RSI getroffen hat. Und es gilt ganz besonders für die Weltgesundheitsorganisation.
Verbindet man die sichtbaren Punkte im undurchsichtigen Wirken der globalen Beratungsfirmen ergibt sich ein beunruhigendes Bild. Und es werden Fragen aufgeworfen: Wer hat die Reaktion der Institutionen auf die Pandemie wirklich gesteuert? Die Weltgesundheitsorganisation? Die nationalen Regierungen? Oder sonst jemand – und in diesem letzten Fall: Auf welcher rechtlichen Grundlage?
Übertragung aus dem Italienischen und redaktionelle Bearbeitung: Marc Leutenegger.
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