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Was wir den Armen weltweit schulden

Kinder in Afghanistan füllen Behälter mit Trinkwasser von einem Abflusshahn der Gemeinde. Mehrjährige Kriege haben die Wasserversorgung zerstört. Keystone

Was gehen uns Armut und Not ausserhalb der Landesgrenzen an? Einiges, sagen Barbara Bleisch und Peter Schaber vom Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Weshalb die Schweiz gegenüber den Armen in der Pflicht steht, legten sie an einer Podiumsdebatte in Bern dar.

Von der Notwendigkeit der Entwicklungshilfe überzeugen, das mussten die Ethik-Fachleute ihr Publikum nicht: Zur Debatte eingeladen hatte die Direktion für Zusammenarbeit und Entwicklung DEZA, deren «Traverse»-Veranstaltungen dem Erfahrungsaustausch mit anderen Institutionen dienen.

Die Frage «Warum überhaupt Entwicklungshilfe?» bei der DEZA auszuleuchten, habe sie jedoch überrascht, sagt Barbara Bleisch von der Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik.

In der Vergangenheit seien meist empirische Fragen nach Messbarkeit und Resultaten der Armutsbekämpfung zentral gewesen. Erst in jüngerer Zeit werde zu Ethik und Entwicklung geforscht.

Entwicklungshilfe in der Kritik

Die Politik zu kritisieren sei nicht ihre Aufgabe, betonte Bleisch, die zusammen mit Peter Schaber Studien zu Weltarmut und Ethik verfasst hat.

Während sich Schaber mit den normativen Grundlagen wie dem Zugang zu Wasser als Menschenrecht befasst, liegen die Forschungsschwerpunkte Bleischs bei der ethischen Entscheidungsfindung in der Praxis.

  

Argumente für und wider Entwicklungshilfe stellte sie anhand alltäglicher politischer Aussagen vor: “Hört auf mit Entwicklungshilfe, sie hat viele negative Seiteneffekte.

Auf die Medizin übertragen, würde jedoch niemand fordern, stoppt die Krebstherapie, denn ihre Nebeneffekte widersprechen dem Keinen-Schaden-Zufügen-Prinzip“, vergleicht Bleisch.

“Arme sollen sich selber helfen“, sei eine weitere Aussage. Selbst wenn korrupte Eliten am Schlamassel schuld seien, sieht Bleisch keinen Grund, Arme fallen zu lassen. Wenn ein Snowboarder eine Lawine selbst verursacht habe, seien wir aus ethischer Sicht doch zur Hilfe verpflichtet.

Freiwilligkeit genügt nicht

Hilfe sei keine staatliche Verpflichtung, sondern freiwillige Wohltätigkeit, die Private wie Bill Gates übernehmen könnten, laute ein liberaler Ansatz. Doch wenn es ums Überleben von Millionen Menschen gehe, sei Hilfe Pflicht, setzt die Ethik dem entgegen.

Hilfe aus Eigeninteresse möge in einigen Fällen dienen, ist laut Bleisch aber die falsche Motivation. Denn sie übergehe die Frage, ob Hilfe nötig ist oder nicht.

Eine klassische Begründung sei, dass wir Hilfe schulden. Was aber genau wir den Armen schulden, sei schwieriger zu beantworten. Ob es sich um die Deckung von Grundbedürfnissen handle, die Einhaltung der Menschenrechte oder gar eine Umverteilung, werde international seit längerem untersucht.

Dabei stellt Bleisch einen Paradigmenwechsel fest: «Wir schulden Gerechtigkeit und nicht Hilfe.»

Menschenrechte schützen

Für Peter Schaber sind es normative Grundlagen wie die Erklärung der Menschenrechte, die zur Hilfe verpflichten. Zwar sei das Recht auf Wasser oder auf Nahrung eher moralisch und kaum einklagbar.

Dennoch müssten diese moralischen Rechte vom Staat geschützt werden. Wenn ein einzelner Staat etwa das Recht auf Nahrung nicht gewährleisten könne, sei die internationale Gemeinschaft zur Hilfe verpflichtet. «Wir schulden das Recht auf ein minimales Überleben», sagt Schaber.

Absolute Armut bedeute, keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu haben. Arme seien auch nicht fähig, ihre Rechte einzufordern, ob legale oder moralische. Rechte zu haben, bedeute Selbstrespekt, und ohne Rechte könne man auch nicht in Würde leben.

Für Schaber steht bei der Hilfe nicht die Deckung von Grundbedürfnissen im Vordergrund. Diese Hilfe zu leisten sei zwar eine gute Tat, mindestens so wichtig sei aber die «Befähigung zu eigener Stimme».

Nicht nur Wirtschaftswachstum

Politische Freiheiten – darunter die auf Meinungsäusserung – wie auch soziale Rechte der Armen erhielten zunehmend Gewicht, sagte dazu die britische Forscherin Sabina Alkire.

Die Armut bzw. ihre Beseitigung sei zu lange nur als Frage des Wirtschaftswachstums betrachtet worden. Heute gelte die Messung von Armut als eine «multidimensionale Herausforderung».

Weltgemeinschaft in der Pflicht

Auch Alkire – sie ist Leiterin der «Oxford-Initiative zu Armut und menschlicher Entwicklung» (OPHI) – nimmt reiche Länder in die Pflicht.

Wenn nationale Akteure dabei versagten, den Armen und Entrechteten zu helfen oder Frieden und Sicherheit zu schaffen, müsse die internationale Gemeinschaft diese Aufgabe auf die einzelnen Staaten aufteilen.

Das Ethik-Zentrum der Universität Zürich (EZEN) ist das erste seiner Art in der Schweiz und auf Initiative verschiedener Fakultäten (Theologie, Philosophie, Medizin) entstanden.

Die rund 40 Mitarbeitenden befassen sich mit Grundlagenreflexion in Forschung und Lehre wie auch mit aktuellen Fragen der angewandten Ethik.

Das Zentrum organisiert Ethik-Seminare für interessierte Institutionen, darunter mit dem Bundesamt für Migration BFM oder den Grossbanken UBS und CS.

Barbara Bleisch und Peter Schaber haben das Buch «Weltethik und Armut» herausgegeben.

Sie sehen die Bekämpfung der Armut als grosse moralische Herausforderung: Armut sei nicht Natur gegebenes Schicksal, sondern von Menschen gemacht und könne bei einem entsprechenden Einsatz bekämpft werden, zumal sehr viele Menschen betreffon seien.

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