Wegen Obdachlosigkeit: «Es muss dringend gehandelt werden»
In verschiedenen Schweizer Städten kommen Notschlafstellen an den Anschlag. Bern will nun handeln.
Wer abends durch die Berner Innenstadt schlendert, trifft nicht selten obdachlose Personen an. Menschen, welche in den Lauben in Schlafsäcke gehüllt übernachten oder sich eine Parkbank als Schlafplatz ausgesucht haben.
Silvio Flückiger arbeitet schon seit Jahren für Pinto. Das ist die Sozialarbeit im öffentlichen Raum in Bern. Eine solche Situation wie in den letzten Monaten habe er noch nie erlebt: «Im Gegensatz zu früher hat sich die Zahl der Obdachlosen etwa verdoppelt.»
Notschlafstellen am Anschlag
Das Berner Passantenheim der Heilsarmee berichtet ebenfalls von vielen Hilfesuchenden. In letzter Zeit war das Haus praktisch immer voll – obwohl vor zwei Jahren zusätzliche Plätze eingerichtet wurden.
Ähnlich klingt es in Biel: Die dortige Notschlafstelle war in den letzten Monaten ausgebucht. Auch aus den Städten Basel und Genf ist ähnliches zu hören. Eine letztes Jahr publizierte Studie kam zudem zum Schluss, dass in Bern im Vergleich mit anderen Deutschschweizer Städten mehr Obdachlose leben.
In Bern gibt es verschiedene Einrichtungen, in denen sich Obdachlose notfallmässig über Nacht einquartieren können. Pinto bietet am Rand der Berner Innenstadt ebenfalls eine Anlaufstelle an. Zweimal am Tag kann sich hier melden, wer keine Bleibe hat; es gibt Schliessfächer, eine Waschmaschine, eine Dusche.
Für Silvio Flückiger von Pinto ist klar: «Die Entwicklung der letzten Monate zeigt: Etwas zu tun, ist nicht nur nötig, sondern dringend.»
Der Druck auf Armutsbetroffene nehme zu, sagt Sozialforscher Jörg Dittman von der Fachhochschule Nordwestschweiz. «Die Kosten für das tägliche Leben steigen, der Wohnungsmarkt ist seit Jahren unter Druck.»
Der 37-jährige David schaut zum ersten Mal bei Pinto vorbei. Er hat in einer Sozialeinrichtung gewohnt und gearbeitet – doch ihm sei fristlos gekündigt worden: «Ich bekam mit verschiedenen Personen dort Probleme. Auch meine Alkoholsucht war immer wieder Thema.»
Nun habe er keine Wohnung, keine Arbeit, kaum Freunde. «Ich muss jetzt schauen, wo ich die nächsten Tage übernachten will. Zur Last möchte ich niemandem fallen.»
Zahl der ausländischen Obdachlosen nimmt zu
Vermehrt sind Ausländerinnen und Ausländer obdachlos. Sie wollen hier ihr Glück versuchen – und stranden. Ihre Zahl werde wohl noch zunehmen, vermutet der Soziologe Jörg Dittmann: «Kriege und die grosse Armut in anderen Ländern sind Treiber für Obdachlosigkeit – auch in der Schweiz.»
Eine im letzten Jahr publizierte Studie kommt zum Schluss: Fast zwei Drittel der Obdachlosen sind Sans-Papiers, haben also keine gültigen Papiere.
An den nächsten Winter denken
In Bern wollen sich die Behörden auf den nächsten Winter vorbereiten. Die zuständige Sozialdirektorin Franziska Teuscher sagt: «In Bern wollen wir allen, welche das wollen, einen Schlafplatz ermöglichen.»
Das Projekt «Housing First» verhilft Obdachlosen zu einer Wohnung. Als Basis, damit sie schneller in ein geregeltes Leben zurückkommen. Als erste Schweizer Stadt hat Basel 2020 ein solches Projekt gestartet. SRF-Journalistin Marlène Sandrin von der Basler Regionalredaktion schätzt ein.
SRF News: Was genau ist «Housing First»?
Marlène Sandrin: Der Unterschied zu anderen Angeboten ist gross. Es geht um einen neuen Ansatz. Hilfesuchende erhalten eine Wohnung. Es geht um Leute, die sonst keine Chance haben und auch bei anderen Institutionen abgeblitzt sind. Sie unterschreiben den Wohnungsvertrag selber. Man geht davon aus, dass das der erste Schritt ist zurück in ein normales Leben.
Was sind die Erfahrungen?
Der Versuch läuft über drei Jahre. Es ist nicht ganz einfach. Das Schwierigste – und das wurde erwarte – ist das Finden geeigneter Wohnungen. Denn freie Wohnungen sind rar. Knapp 20 Wohnungen konnten vermittelt werden, also nicht sehr viele. Die Verantwortlichen und Direktbetroffenen sagen aber, für viele ist dieser Schritt, das Einziehen in die eigene Wohnung, eine grosse Erleichterung. Es ist aber auch klar, dass damit noch nicht alles getan ist. So brauchen die Betroffenen zusätzliche Betreuung.
Geht der Versuch weiter?
Das Projekt wurde bis Ende Jahr verlängert. «Housing First» soll es aber weiterhin geben, und zwar als Teil der Wohnstrategie des Kantons Basel-Stadt.
Das Thema ist schon länger auf der politischen Traktandenliste. Unlängst hat das Berner Stadtparlament zusätzliche Plätze in Notschlafstellen gefordert, gerade auch für Frauen. Hier läuft die Suche nach einer geeigneten Liegenschaft, bestätigt Franziska Teuscher.
Zudem sollen in den nächsten Monaten neue Beratungsangebote im Bereich Wohnen eingeführt werden. Auch will die Stadt künftig für armutsbetroffene Personen, welche Aussicht auf eine Wohnung haben, das Mietzinsdepot übernehmen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch