Weissrussland: Neuer, ungemütlicher Partner für die Schweiz
Hunderttausende Menschen gingen in diesen Tagen in Minsk auf die Strasse, um gegen das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko zu protestieren. Die Ereignisse in Weissrussland bringen die Schweizer Diplomatie in Verlegenheit. Denn zu Beginn dieses Jahres versuchte sie, die bilateralen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen wieder zu beleben.
«Die Einweihung der Botschaft zeugt von der wachsenden Bedeutung unserer Beziehungen und würdigt die Rolle von Weissrussland in der Region», sagte der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis anlässlich der Eröffnungsfeier der neuen Schweizer Botschaft in Minsk am 13. Februar.
Bis zum vergangenen Jahr unterhielt die Eidgenossenschaft nur ein so genanntes «Botschaftsbüro» in der weissrussischen Hauptstadt. Dessen Umwandlung in eine Botschaft sollte daher den Beginn einer neuen Phase intensiver diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Ländern einläuten.
Lange Zeit distanziert
Die bilateralen Beziehungen waren nach der Gründung der neuen Republik nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 lange Zeit ziemlich abgekühlt. Einerseits, weil Weissrussland aufgrund seiner territorialen Nähe zu seinem grossen Nachbarn zu den wenigen Ländern Osteuropas gehörte, die unter engem Einfluss Russlands blieben.
Mit einem Bruttoinlandprodukt, das immer noch etwas höher ist als dasjenige Litauens, konnte Weissrussland auch schon lange nicht mehr viele Schweizer Investoren und Unternehmen anziehen. Letztere eröffneten ihre Filialen lieber in näher gelegenen osteuropäischen Ländern. So etwa in der Tschechischen Republik oder Ungarn, die 2004 der Europäischen Union (EU) beigetreten sind.
Aus einem Beitrag der «Rundschau» von SRF von 2014.
Seit der kommunistischen Ära ist die weissrussische Wirtschaft auch weiterhin hauptsächlich auf die Schwerindustrie und die Petrochemie ausgerichtet. Das sind Sektoren, in denen nur wenige Schweizer Unternehmen tätig sind.
Andererseits waren die bilateralen Beziehungen auch aus politischen Gründen abgekühlt. Das Lukaschenko-Regime trug sicherlich nicht dazu bei, sein Land zu einer Annäherung an die EU und die Schweiz zu bewegen.
Sowohl die UNO-Menschenrechts-Kommission als auch der Europarat und verschiedene Nichtregierungs-Organisationen prangerten in den letzten Jahrzehnten regelmässig systematische Verletzungen der Grundrechte in der «letzten Diktatur Europas», wie Weissrussland genannt wird, an.
Überraschendes Tauwetter
Angesichts der Krise, die sich nun in Weissrussland anbahnt, überrascht die «Tauwetter-Politik» der EU und der Schweiz gegenüber Lukaschenko. Im Jahr 2016 hob Bern im Einvernehmen mit der EU einen Grossteil der zehn Jahre zuvor gegen Weissrussland verhängten Sanktionen auf. Darunter etwa das Einfrieren der osteuropäischen Vermögenswerte und wirtschaftlichen Ressourcen des Landes.
Nach einem Treffen mit Präsident Lukaschenko anlässlich der Eröffnung der Schweizer Botschaft in Minsk erklärte der Aussenminister Cassis sogar, die Schweiz sei mit der engen Zusammenarbeit mit Weissrussland im Bereich der Menschenrechte zufrieden. Eine Sicht, die offenbar auch von jenen Privatpersonen und Unternehmen geteilt wird, die Anfang dieses Jahres den neuen Freundschaftsverein Schweiz-Weissrussland gegründet haben.
«Das Land, die Bevölkerung und die Situation in Weissrussland werden in der Schweiz nicht oder nur voreingenommen wahrgenommen», sagte die ehemalige sozialdemokratische Nationalrätin Margret Kiener Nellen, Präsidentin dieses Vereins, im Februar dem Schweizer Fernsehen SRF. Die Vereinigung, die geschaffen wurde, um die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu stärken, bedauert und verurteilt in einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung «die brutale Gewalt, welche die Bevölkerung in Weissrussland erleidet».
Noch bescheidener Austausch
Neben den politischen und kulturellen Beziehungen nahm in letzter Zeit auch der wirtschaftliche Austausch zwischen den beiden Ländern zu: Im Jahr 2019 erreichte das Volumen des bilateralen Handels 194 Millionen Franken (143 Millionen Exporte und 51 Millionen Importe), über 54% mehr als im Vorjahr.
Dieser Anstieg ist vor allem auf die Aktivitäten des Schweizer Bahnherstellers Stadler Rail zurückzuführen. Er eröffnete 2013 in der Nähe von Minsk für 80 Millionen Franken ein Werk zur Herstellung von Schienenfahrzeugen für Osteuropa.
«Das Erneuerungspotenzial beim Rollmaterial in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und insbesondere in Russland ist gross», schreibt das Schweizer Unternehmen auf seiner Website. Es hat seither bereits eine Reihe von Verträgen mit den weissrussischen, russischen, aserbaidschanischen und georgischen Bahnen abgeschlossen.
Neben Fahrzeugen und Maschinen (fast die Hälfte der Exporte 2019) verkauft die Schweiz in Weissrussland vor allem Arzneimittel, Metalle, Uhren und Kunststoffe. Zu den importierten Produkten gehören vor allem Edelsteine und Edelmetalle, Fahrzeuge, Lebensmittel und Möbel. Im vergangenen Jahr lag die Schweiz mit einem Volumen von 76 Millionen Franken, das grösstenteils von Stadler Rail stammt, auf Platz 13 der grössten Investoren in Weissrussland.
Weitere bedeutende Unternehmen mit Schweizer Kapital in Weissrussland sind das Transport- und Logistikunternehmen Asstra, der zur Frank Müller Gruppe gehörende Uhrenhersteller Lutsch und der Karosseriebauer Hess.
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