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«Moralische Aufrüstung» – roter Faden der Schweizer Geschichte

Der erste deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) neben dem Gründer der Bewegung "Moralische Aufrüstung", Frank Buchman, im Jahr 1960. Initiatives of Change

Die Stiftung CAUX-Initiativen feiert ihr 70-Jahre-Jubiläum. Sie geht auf eine internationale evangelikale und antikommunistische Bewegung zurück, die während des Kalten Krieges die Schweizer Konservativen prägte. Heute will sie die Welt "in kleinen Schritten verändern".

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich die westliche Welt im Krieg und in der Krise befand, gründete ein amerikanischer Pastor die Bewegung «Moralische Aufrüstung». Am 1. Juli wird in Caux, einem Schweizer Dorf über dem Genfersee, deren 70-Jahre-Jubiläum gefeiert.

Der Pastor Frank Buchman war schweizerischer Herkunft und überzeugt, die Welt aus dem Elend befreien zu können. Mit seinen Anhängern gründete er in den 1930-er Jahren die Oxford Gruppe, die zunächst einmal die Anonymen Alkoholiker ins Leben rief.

Die ersten Schweizer Mitglieder der Moralischen Aufrüstung

Zu den berühmtesten ersten Mitgliedern der Moralischen Aufrüstung gehören Henry VallottonExterner Link, freisinniger Nationalrat und Fraktionspräsident, Henri GuisanExterner Link, General der Schweizer Armee während des Zweiten Weltkrieges, sowie der damalige Präsident des IKRK Max Huber oder der Gründer der Migros-Genossenschaft (ein Detailhandelsunternehmen), Gottlieb DuttweilerExterner Link.

Später kamen Mitglieder des GotthardbundsExterner Link dazu, beispielsweise Theophil SpoerriExterner Link oder Philippe Mottu, Mitarbeiter des Bundesrats Marcel Pilet-GolazExterner Link und Redner von «Heer und HausExterner Link«, dem wichtigsten Werkzeug der geistigen Landesverteidigung.

Aber Buchman, ein Mann mit Überzeugungen, liess es nicht dabei bewenden. Angesichts der Lasterhaftigkeit, die er dem Kapitalismus und den atheistischen Kommunisten unterstellte, hielt Buchman eine «Moralische Aufrüstung» für notwendig. Im Jahr 1938 wurde der von der Oxford Gruppe lancierten Bewegung offiziell dieser Namen verliehen.

In einem BuchExterner Link über die Bewegung schreibt der amerikanische Historiker Daniel Sack: «Die Moralische Aufrüstung versuchte die Welt zu verändern, indem sie die menschliche Natur veränderte, auch in den Bereichen Politik und Wirtschaft. Und dies nicht nur durch rationale Überzeugung oder logische Argumentation, sondern auch über persönliche Zeugnisse [Auf Englisch: Storytelling, Anm.d.Red.]»

Die autoritäre Versuchung

Dieser Appell stiess in Europa und der ganzen Welt auf offene Ohren. In der Schweiz schlossen sich etwa 30 Persönlichkeiten der liberalen und konservativen Rechten der Bewegung an.

Die politischen Positionen der Schweizer Mitglieder der Moralischen Aufrüstung zeigen, welche Themen damals die rechten Parteien der Schweiz beschäftigten. Der politisch rechts stehende Historiker Olivier Meuwly erklärt den unruhigen Kontext jener Zeit: «Während den 30er Jahren herrschte die totale Krise, sowohl wirtschaftlich, politisch wie auch intellektuell. Der Aufschwung des Faschismus und des Kommunismus erschreckte viele Leute. Und eine Minderheit des Freisinns (der damals wichtigsten rechten Partei und Mehrheit in der kollegialen Regierung der Schweiz) hatte Zweifel an der parlamentarischen Demokratie und fragte sich, ob der Kapitalismus nicht reformiert werden sollte. Einige zogen gar eine autoritäre Lösung für die Schweiz in Betracht.»

In der zweiten Hälfte der 1930-er Jahre brachte der erzkatholische und aristokratische Gonzague de Reynold diese Option mit einem gewissen Erfolg in die Schweiz. Er bewunderte den Portugiesen António de Oliveira Salazar, der 1933 den «Estado Novo» gründete, ein autoritäres, konservatives, katholisches und nationalistisches Regime, das bis 1974 Bestand hatte. «Salazar war ein Beispiel für den soften Schweizer Faschismus», sagt der linke Historiker Hans-Ulrich Jost. «Auch in den Reihen der konservativen Protestanten.»

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Wie «Moralische Aufrüstung» zu «Initiativen der Veränderung» wurde

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Nach der Ankunft des sowjetischen Präsidenten Nikita Chruschtschow am Sowjet-Gipfel im Jahre 1953 intensiviert die Bewegung ihren Kampf gegen den Kommunismus mit einer weltweiten Kampagne. Sie lädt unter anderen politische Führer aus südlichen Ländern nach Caux im Kanton Waadt ein, die sich für ihre Dekolonisierung engagieren. Nachdem Cornelio Sommaruga die Direktion im Jahr 2000 übernommen…

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Für einen Teil der Schweizer Rechten ging es darum, die Souveränität der Schweiz gegenüber dem nazistischen Deutschland zu verteidigen. Dies im Bewusstsein, dass zahlreiche autoritäre Regimes eine neue europäische Ordnung schufen.

Diese Vision zirkulierte in verschiedenen rechtsgerichteten Organisationen, in Think Tanks – bevor es diesen Begriff überhaupt gab: «Aber es gibt keine historische Forschung zu den Verbindungen zwischen den verschiedenen rechten Organisationen in den 1940-er und 1950-er Jahren», sagt Hans-Ulrich Jost.

Was seinen Kollegen Olivier Meuwly zu folgender Aussage bewegt: «Einige linksextreme Historiker fantasieren, dass die Moralische Aufrüstung und vor allem die Mont Pèlerin SocietyExterner Link (MPS) eine weltweite Verschwörung für die Herrschaft des Geldes seien.» Dieser Think Tank spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Neoliberalismus.

Die MPS wurde ein Jahr später als die Moralische Aufrüstung in Caux gegründet und ist dieser somit geographisch und zeitlich nahe. Hans-Ulrich Jost sieht eine weitere Gemeinsamkeit: «Die Mont Pèlerin Society vertrat dieselben Werte wie die Moralische Aufrüstung, aber ohne die Religion. Sie wurde vom Ökonomen Friedrich von Hayek [einer der wichtigsten Vertreter des Neoliberalismus, Anm.d.Red.] und seinem Fachkollegen Wilhelm Röpke gegründet. Dieser verfasste 1942 in der Neuen Zürcher Zeitung einen moralischen Appell zur Erneuerung der Schweiz, gestützt auf das Individuum und die wirtschaftliche Freiheit, mit einem schlanken Staat ohne Sozialpolitik.»

Den Kommunismus bekämpfen

«Nach dem Krieg findet sich die eher wohlhabende Schweizer Rechte auch in der Moralischen Aufrüstung wieder, ein Netz mit einem gewissen Einfluss auf Politik und Armee», sagt Hans Ulrich Jost.

Ein ehemaliger Verantwortlicher der Bewegung sieht das ähnlich: «Ich bin zum ersten Mal mit etwa 18 bis 20 Jahren Anfang der 1960-er Jahre nach Caux gegangen. Wenn ich es richtig verstanden habe, ging es damals vor allem darum, die christlichen Werte gegen den Kommunismus zu mobilisieren. Man unternahm viele Anstrengungen bei den Eliten von Drittweltländern, damit diese nach ihrer Unabhängigkeit nicht dem Kommunismus verfielen. Dieser Weg hat mich nicht interessiert», erzählte Jean-Pierre Méan 2010 in einem InterviewExterner Link gegenüber der protestantischen Nachrichtenagentur protestinfo.ch.

Neuanfang mit Cornelio Sommaruga

Dass Jean-Pierre Méan nach der Jahrtausendwende doch noch der Stiftung Caux beigetreten ist, liegt am Aufschwung, den die Organisation seit der Leitung durch Cornelio Sommaruga erlebt. Die Moralische Aufrüstung hatte seit den 1970-er Jahren erheblich an Strahlungskraft verloren.

Cornelio Sommaruga geniesst grosses Ansehen in der Schweiz und bei internationalen Organisationen in Genf. Er verkörperte die Präsidentschaft des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) von 1987 bis 1999 wie kaum jemand zuvor.

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Unter seiner Führung wurde die Bewegung umbenannt: Von der lästig gewordenen Bezeichnung «Moralische Aufrüstung» zu «Initiativen der Veränderung». Damit wird die Ursprungsidee von Frank Buchman gewahrt, aber gleichzeitig von der ideologischen Färbung befreit.

Internationales Genf

Stiftungsratsmitglied Urs Ziswiler (der auch Präsident des Publikumsrats von swissinfo.ch ist) bestätigt: «Seit der Präsidentschaft von Cornelio Sommaruga hat sich die Richtung klar geändert. Aber auch früher schon hat die Bewegung eine interessante Arbeit im Bereich der Mediation geleistet [zwischen Franzosen und Deutschen beim europäischen Aufbau, Anm.d.Red.]. In Caux fanden auch einige Treffen zur Dekolonisierung statt, beispielsweise jene von Algerien.»

Ziswiler, ein ehemaliger Schweizer Diplomat, erzählt beispielsweise, in Caux den Dalai Lama getroffen zu haben. Ganz im Geheimen, in der Zeit als Bern zwischen China und Tibet zu vermitteln versuchte. Er fügt an, dass die Institution auch heute noch ein Treffpunkt und Vermittlungsort für das internationale Genf und die Schweizer Diplomatie sei.

Nicht vergessen sollte man das Grundprinzip, wonach das Individuum sich ändern kann, indem es Lebenserfahrungen austauscht und damit die Gesellschaft verändert. Der tatsächliche Einfluss bleibt bescheiden. «Wir werden nicht die Welt verändern. Wir versuchen, sie in kleinen Schritten zu wandeln», sagt Barbara Hintermann, Generalsekretärin der Stiftung Caux-Initiativen der VeränderungExterner Link.

Was denken Sie zur Bewegung «Moralische Aufrüstung» beziehungsweise «Initiativen der Veränderung»? Äussern Sie sich in den Kommentaren!

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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