Wem hilft die Schweizer Entwicklungshilfe?
Wenn Entwicklungshilfe zu viele Ziele auf einmal erfüllen soll, wird sie überfordert, schreibt Katharina Michaelowa, Professorin für Politische Ökonomie und Entwicklungspolitik an der Universität Zürich.
Im Juni diskutierte der Nationalrat über die von Bundesrat Cassis vorgelegte Strategie zur internationalen Zusammenarbeit (IZA) für die Jahre 2021–2024, und im Herbst wird die Diskussion im Ständerat fortgesetzt.
Katharina Michaelowa ist Professorin für Politische Ökonomie und Entwicklungspolitik an der Universität Zürich. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich mit Fragen der Entwicklungszusammenarbeit und der internationalen Klimapolitik ebenso wie mit ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen innerhalb des Globalen Südens.
Verfolgt man diese Diskussion, so fragt man sich, wem eigentlich geholfen werden soll. Insbesondere SP und Grüne verweisen darauf, dass die internationale Solidarität gerade in Zeiten der Corona-Pandemie noch wichtiger ist als sonst.
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Coronavirus-Krise: Wie weiter mit der Entwicklungshilfe?
Gerade in Zeiten von Corona brauchen wir die Gelder für die Schweiz, sagt hingegen die SVP. Und auch der Text der IZA-Botschaft selbst reflektiert bereits – vermutlich in Antizipation der entsprechenden Kritik – dass das hier zu beschliessende Budget für die nächsten vier Jahre ganz im Interesse der Schweiz ausgegeben werden soll. Ist das nicht ein Problem für die Wirksamkeit der Entwicklungshilfe?
Langfristige versus kurzfristige Interessen
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort «Entwicklungshilfe» hören? Ich selbst denke eigentlich in erster Linie an Minderung von Not und Armut – nicht in der Schweiz, sondern dort, wo kein soziales Sicherungssystem die Menschen zumindest gegen wirklich lebensbedrohliche Schocks absichert. An Erfolgen in diesem Bereich wird dann typischerweise auch die Wirksamkeit der Entwicklungshilfe gemessen.
«Problematisch wird es, wenn die Schweizer Interessen kurzfristig verstanden werden und die Minderung von Not und Armut als zentrales Ziel der Entwicklungshilfe dadurch verdrängt wird.»
Wenn Entwicklungshilfe aber in erster Linie auf Exportförderung, Unterstützung von in Entwicklungsländern tätigen Schweizer Unternehmen, Schutz der Schweiz vor Migration und schliesslich auf Klimaschutz ausgerichtet wird, dann sind dies offensichtlich andere und nur zum Teil komplementäre Ziele.
Wenn wirtschaftliche und andere Interessen der Schweiz langfristig verstanden werden, so gibt es mit der Komplementarität kein Problem.
Problematisch wird es hingegen, wenn die Schweizer Interessen kurzfristig verstanden werden und die Minderung von Not und Armut als zentrales Ziel der Entwicklungshilfe dadurch verdrängt wird. In der Politik, in der spätestens vor der nächsten Wahl Ergebnisse eingefordert werden, ist eine solche kurzfristige Orientierung ein ernsthaftes Risiko.
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«Der Ruf der Schweiz als verlässliche Partnerin steht auf dem Spiel»
Werden nicht die jetzigen Kritiker der IZA schon in Kürze nach Belegen fragen, wie denn die hier gesprochenen Gelder tatsächlich die Migration in die Schweiz eingedämmt oder Schweizer Unternehmen im internationalen Wettbewerb gestärkt haben? Werden sie nicht behaupten, genau dies sei ihnen versprochen worden?
Konkrete Beispiele
Die letzten Jahrzehnte in Europa stellen uns eindrücklich vor Augen, wie Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum durch den Austausch mit anderen Ländern erhöht werden können.
Wenn die Schweiz dazu beiträgt, dass in einem heutigen Entwicklungsland stabile demokratische Verhältnisse und ein verlässliches Rechtssystem entstehen und durch ein robustes Bildungs- und Gesundheitssystem zudem produktives Humankapital zur Verfügung steht, so dient dies auch den Schweizer Unternehmen vor Ort und dem Handel mit der Schweiz.
Wenn die Entwicklungshilfe und die diplomatischen Beziehungen der Schweiz jedoch eingesetzt werden, um einzelne Schweizer Unternehmen zu fördern, die in einem Entwicklungsland die dortigen, wenig anspruchsvollen gesetzlichen Vorgaben im Bereich Arbeitnehmerschutz und Umwelt bis an ihre äussersten Grenzen ausreizen, so mag dies kurzfristig im Interesse dieser Schweizer Unternehmen sein (und kurzfristig auch einige Arbeitsplätze vor Ort sichern), aber das Vorgehen ist nicht nachhaltig.
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Wie die Schweiz von Entwicklungshilfe profitiert
Es verhindert eine sinnvolle institutionelle Entwicklung, führt zur Schädigung von Umwelt und Gesundheit und reduziert letztlich den Wohlstand des betroffenen Landes. Die Konzernverantwortungsinitiative, über die im November in der Schweiz abgestimmt wird, wendet sich im Übrigen gegen genau diese Art von Missständen – und bietet so Wettbewerbsschutz für diejenigen Schweizer Unternehmen, die sich schon jetzt an die Spielregeln halten.
Ähnlich verhält es sich im Bereich Migration. Wenn Entwicklungshilfe den Menschen neue Zukunftsperspektiven vor Ort bietet und sie sich langfristig daher nicht mehr gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen, so erzielt die Entwicklungspolitik positive Nebeneffekte im Bereich der Migrationspolitik.
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«Es ist illusorisch, mit kurzfristiger Hilfe Migration zu verhindern»
Schiebt sich aber ein kurzfristiges Interesse zur Eingrenzung der Einwanderung in den Vordergrund, hat dies in der Regel negative Auswirkungen auf die eigentlichen Ziele der Entwicklungspolitik. Wenn die Schweiz beispielsweise Entwicklungshilfe als Belohnung für Verträge zur Rücknahme von Flüchtlingen oder zur Verhinderung von Migration vergibt, so zementiert sie damit die Macht undemokratischer und menschenverachtender Regime, was die Probleme langfristig nur vergrössert.
«Wenn Entwicklungshilfe zu viele Ziele auf einmal erfüllen soll, wird sie leicht überfordert.»
Auch die Ziele der Klimapolitik stehen mit den Zielen der Reduktion von Not und Armut in der Welt nicht immer in Einklang. Wirtschaftswachstum erfordert Energie und es wäre vermessen, den Entwicklungsländern zu versagen, was wir für uns selbst als Normalität in Anspruch nehmen.
Zielkonflikte kann es auch auf der Ebene einzelner Entwicklungsprojekte geben, beispielsweise wenn der Bau eines grossen Wasserkraftwerks zur Vertreibung der lokalen Bevölkerung führt. Gleichzeitig sind aber gerade die ärmsten Weltregionen am stärksten von den Folgen der globalen Klimaveränderung betroffen. Wichtig ist also, hier ökonomische, soziale und Umweltziele gleichzeitig im Blick zu behalten und im Einzelfall sorgsam abzuwägen.
Entwicklungshilfe nicht überfordern
Wenn Entwicklungshilfe zu viele Ziele auf einmal erfüllen soll, wird sie leicht überfordert.
Auch dem Volumen nach ist die Entwicklungshilfe viel zu klein, um grosse weltweite Verbesserungen in einer Vielzahl von Bereichen zu erreichen. Innerhalb des geplanten IZA-Budgets beträgt der spezifisch für bi- und multilaterale Zusammenarbeit (also nicht z.B. der für reine Akutunterstützung im Fall von Katastrophen) vorgesehene Betrag über die gesamte Vierjahresperiode etwa 6,6 Mrd. CHFExterner Link, das heisst pro Jahr 1,65 Mrd. Das ist nicht bedeutend mehr als das Budget von 1,45 Mrd. CHFExterner Link, das meiner Arbeitgeberin, der Universität Zürich, im Jahr 2019 zur Verfügung stand.
Wenn dem Willen des Nationalrats gefolgt wird, ist zudem über die nächsten vier Jahre keine klare Planung möglich, weil für die IZA nur ein Rahmenkredit beschlossen wurde, bei dem jährlich neu zu entscheiden sein wird, ob die entsprechende Jahrestranche wirklich ausgeschöpft werden darf.
Wir müssen also vielleicht die Erwartungen etwas herunterschrauben, was mit diesem relativ kleinen und unsicheren Betrag in der Welt insgesamt und letztlich für die Schweiz alles erreichbar sein soll. Umgekehrt müssen für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik auch andere, grössere Politikfelder in der Schweiz (z.B. Handel, Landwirtschaft, Militär, internationale Finanzflüsse) so gestaltet werden, dass sie mit ihrem teils deutlich grösseren Finanzierungsvolumen entwicklungspolitische Anliegen unterstützen, oder ihnen zumindest nicht entgegenwirken.
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