Wenn das nationale Erbe aus Gräueltaten besteht
Nach 50 Jahren Bürgerkrieg ist Kolumbien auf den Weg zum Frieden, Tunesien strebt nach 20 Jahren Diktatur Demokratie an. Zwei Beispiele von Ländern, welche die Schweiz um Unterstützung baten, um ihre Ära der straflosen staatlichen Gewalt hinter sich zu lassen.
«Chef, wir haben 48. Sollen wir weitermachen oder aufhören?» Der Chef antwortete per Funk: «Macht nicht mehr weiter. Ihr habt dort schon einen Haufen Unschuldiger umgebracht.»
Diese Schilderung aus Kolumbien stammt von einem Überlebenden eines Massakers, wie sie von Paramilitärs zu Hunderten verübt worden waren. Das Dorf El Salado, wo der Zeuge im Jahr 2000 das Massaker überlebt hatte, gleicht seither einer Geisterstätte.
Die Zeugenaussage steht im Bericht «Dieser Krieg ist nicht unser Krieg», den die Gruppe für Historische Erinnerung 2009 veröffentlichte. Die kolumbianische Organisation publizierte bisher 18 Berichte über den langen Konflikt, der im Mai 2011 von Präsident Juan Santos anerkannt wurde.
Zu dieser Anerkennung kommt das im vergangenen Januar in Kraft getretene Gesetz für Opfer und Landrückgabe. Dieses legte die Grundlage für den eben begonnenen Dialog zwischen der Regierung und der Farc-Guerrilla. Aufgrund des Gesetzes wurde die Menschenrechts-Gruppe zum Zentrum für Historische Erinnerung (CMH) befördert, welches direkt dem Präsidenten unterstellt ist.
«Mit diesem neuen Szenario gewinnt unsere Arbeit ihren vollen Sinn. Es ergeben sich enorme Möglichkeiten, damit die bisher gesammelten Informationen zur Wahrheit und Erinnerung zu den Bemühungen um einen dauerhaften Frieden beitragen», sagt CMH-Direktor Gonzalo Sánchez im Gespräch mit swissinfo.ch.
«Angesichts des anfänglich grossen öffentlichen Misstrauens war die Begleitung und politische Unterstützung unserer Arbeit durch die Schweiz ausschlaggebend.»
Seit 2006 agiert Sánchez› Zentrum unter der Obhut der Schweizer Sonderbeauftragten Mô Bleeker. Als Chefin der Task Force für Vergangenheitsarbeit und zur Prävention von Gräueltaten des Schweizer Aussenministeriums (EDA) steht sie dem internationalen Beirat des kolumbianischen CMH vor.
Diplomatische Nische für die Schweiz
«Die Schweiz verfügt über eine lange historische und politische Tradition zur Konfliktbewältigung», erklärt der Historiker Sánchez aus Bogotá. «Ihre Erfahrung ermöglicht uns, in Kolumbien zu verstehen, dass wir uns in einem internationalen Kontext mit einem Internationalen Strafgerichtshof und rechtlichen Rahmenbedingungen für Menschenrechte befinden, für welchen wir noch nicht vorbereitet sind.»
Heute bemüht sich das CMH um Wahrheitsfindung im ganzen Land. Das Recht auf Wahrheit gehört zusammen mit Gerechtigkeit, Rehabilitierung der Opfer und Garantie der Nichtwiederholung zu den vier Grundpfeilern des vom Schweizer Aussenministerium zusammen mit der Stiftung «Swisspeace» ausgearbeiteten Rahmens für Vergangenheitsarbeit.
Seit 2003 ist die Schweiz in dieser Nische der Friedenspolitik Wegbereiterin und fördert diese u.a. in Lateinamerika, Afrika, dem Kaukasus und auf dem Balkan.
Wie sollen ein Sondergericht eingesetzt, ein Programm für Wiedergutmachung für Opfer ausgearbeitet und institutionelle Reformen durchgeführt werden? Dies sind die dringendsten Fragen, in denen Staaten die Schweiz um fachliche Hilfe ersuchen. Aufgrund der Beratung über Vergangenheitsarbeit hoffen sie, die Ursprünge des Konflikts langfristig zu lösen und die Straflosigkeit zu beenden.
«Wir kommen nicht mit Lösungen, sondern mit Erfahrungen aus bisherigen Prozessen. Wir teilen die Schwierigkeiten und die Erfolge und die aus jeder Erfahrung gewonnenen Lektionen», erläutert Mô Bleeker in ihrem Berner Büro.
Ein Jahrzehnt Erfahrung
«Die Schweizer Regierung ist die erste und einzige, die für dauerhafte Friedensarbeit ausserhalb ihrer Grenzen eine Spezialeinheit für Vergangenheitsarbeit geschaffen hat. Diese ist sehr aktiv. Sie organisiert mit einem Netzwerk internationaler Experten Kurse auf höchstem Niveau», erklärt Pablo de Greiff, erster UNO-Sonderberichterstatter zur Förderung der Wahrheit, Gerechtigkeit, Rehabilitierung und Garantie der Nichtwiederholung.
«Die Schweiz spielt in der UNO eine sehr wichtige Rolle, um die Prinzipien gegen Straflosigkeit auf die internationale Tagesordnung zu setzen. Sie war die Initiantin verschiedener Resolutionen des UNO-Menschenrechtsrats. Und es war die Schweiz, die Argentinien aufforderte, gemeinsam eine Resolution zur Schaffung des Mandats des Sonderberichterstatters einzureichen, für welches ich im März 2012 ernannt wurde,» fügt de Greiff aus New York hinzu.
Übergangsprozess in Tunesien
Als Wegbereiter des arabischen Frühlings und bei der Erarbeitung eigener Rehabilitierungsstrategien bat Tunesien die Schweiz im letzten Juni um Hilfe. Im Vordergrund standen eine Volksbefragung und die Einsetzung einer Wahrheitskommission.
Drei Wochen später nahm EDA-Vertreterin Mô Bleeker in Tunis mit Vertretern des dortigen Ministeriums für Menschenrechte und Justiz an einem Workshop teil. Zugegen waren auch Experten aus Südafrika, Sierra Leone und Irland.
«Die Schweiz hat uns geholfen, damit wir die Herausforderungen der Vergangenheitsbewältigung verstehen,» sagt Samia Kamoun, Direktorin für Zusammenarbeit und internationale Beziehungen im tunesischen Ministerium für Menschenrechte und Justiz. «Der Prozess muss alle gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen, damit der Übergang erfolgreich sein kann,» fügt Kamoun hinzu.
Im nordafrikanischen Land finanziert das EDA zudem eine gemeinsame Initiative von «Swisspeace» und der Nichtregierungs-Organisation «Anwälte ohne Grenzen» für die Ausbildung von Mitarbeitern von Menschenrechts-Organisationen. Sie sollen helfen, Tausende von Akten über 20 Jahre Menschenrechts-Verletzungen des Regimes von Ben Ali gegenüber politischen Gegnern aufzuarbeiten.
«Bei der im Oktober abgeschlossenen Volksbefragung standen die Archive im Mittelpunkt. Während den Diskussionen der Zivilgesellschaft waren der Schutz und die Verwaltung der Archive der Nationalen Polizei ein allgegenwärtiges Anliegen», stellt Professor Khaled Kchir fest. Er gehört einer Fachkommission an, die im tunesischen Transitionsprozess mit dem nationalen Dialog für Justiz beauftragt ist.
Tunesien ist nicht das einzige Land, das in einem solchen Prozess um das Verschwinden von Akten oder ganzer Archive fürchtet. Denn diesen kommt die Schlüsselfunktion zu, wenn das Erbe vergangener Gräueltaten bewältigt werden soll.
Zu Beginn dieses Jahrhunderts war die Schweizer Diplomatie die erste, die sich auf Vergangenheitsarbeit spezialisierte.
Der Task Force für Vergangenheitsarbeit und Prävention von Gräueltaten gehören Beamte der Abteilungen menschliche Sicherheit, Völkerrecht sowie Zusammenarbeit und Entwicklung und humanitäre Hilfe des Aussenministeriums (EDA) an.
Der konzeptuelle Rahmen für Vergangenheitsarbeit der Schweizer Regierung gründet auf den vier von Louis Joinet für die damalige UNO-Menschenrechts-Kommission 1997 entworfenen Grundsätze zur Bekämpfung der Straflosigkeit. Diese Prinzipien bedingen ihrerseits Rechte für die Opfer und Verpflichtungen für die Staaten in Bezug auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Rehabilitierung und Garantien der Nichtwiederholung.
In Zusammenarbeit mit der Stiftung «Swisspeace» organisiert die Schweizer Regierung jährliche Ausbildungskurse für Fachleute und entwickelt ein Projekt für Menschenrechts-Archive.
Aufgrund eines Abkommens mit dem Kulturministerium Guatemalas ist die Schweiz in Zusammenarbeit mit «Swisspeace» und dem Bundesarchiv mit der Aufbewahrung der Kopien der bisher digitalisierten Archive der aufgelösten Nationalpolizei Guatemalas aus den Jahren 1881 bis 1997 beauftragt. Letztere ist mitverantwortlich für die während 36 Jahren im Land verübten Gräueltaten.
2005 wurden in der guatemaltekischen Hauptstadt Dokumente im Umfang von 80 Mio. Seiten entdeckt, deren Existenz abgestritten worden war. Angesichts der Bedeutung dieser Dokumente übernahmen Schweden, die Niederlande, Deutschland, die USA und die Schweiz deren Schutz. Seither unterstützt die UNO die Bereinigung und Digitalisierung der Archive. Bereits 17% der Dokumente sind eingescannt.
Guatemaltekische Fachleute wurden dieses Jahr in Bern für die Verwaltung der digitalisierten Archive ausgebildet. Letztere werden periodisch von Guatemala aus aktualisiert.
Im zentralamerikanischen Land befürchtet man noch immer die Vernichtung dieser Dokumente, da der Einfluss von Kommandos der Armee – die hauptsächlich für die Gräueltaten verantwortlich war – und deren Verbündeten weiterhin vorhanden ist.
(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)
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