Wenn mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wählt: Um was geht es im «Superwahljahr» 2024?
Indien, Indonesien, EU und die USA – 2024 ist ein Jahr mit rekordvielen Wahlen. Daniele Caramani, Professor für Vergleichende Politik an der Universität Zürich, erklärt im Interview die Bedeutung des bevorstehenden Demokratiejahrs.
Das neue Jahr hat es in sich. In fast 80 Staaten mit einer Bevölkerung von 4,5 Milliarden Menschen sind 2024 Wahlen und Abstimmungen geplant. Damit sind mehr als doppelt so viele Menschen zur Wahl aufgerufen als 2023.
Allein in Indien, dem bevölkerungsreichsten Land der Welt, leben 1,42 Milliarden Menschen. In Pakistan, Indonesien, den USA, Mexiko und den Ländern der Europäischen Union leben hunderte Millionen Menschen, die in den nächsten 12 Monaten wählen können. Der britische «Economist» spricht vom «grössten Wahljahr der Geschichte».
Von einem Siegeszug der Demokratie kann trotzdem keine Rede sein, denn viele Wahltage finden nicht unter freien und fairen Bedingungen statt: So wählt auch Russland, wo bereits im Voraus ziemlich klar ist, dass Präsident Wladimir Putin vor einer weiteren Amtszeit steht.
SWI swissinfo.ch: Daniele Caramani, welche Risiken hat es, wenn die Mehrheit der Weltbevölkerung im neuen Jahr zur Wahl gehen kann?
Daniele Caramani: Es gibt das Risiko, dass sich gefährliche Schwankungen verstärken. Bei jeder dieser Wahlen treten Parteien und Führer:innen an, die bewiesen haben, dass sie die Demokratie untergraben wollen. Es geht in diesem Wahljahr also nicht nur um ideologische Positionen und politische Massnahmen, sondern auch um die Entwicklung der Demokratie als solches.
Man muss schon blind sein, um dies nicht zu erkennen. Das Jahr 2024 wird ein Jahr sein, in dem die Demokratie in einem Ausmass geschwächt werden könnte, das ihr Überleben gefährdet. Angesichts der Tragweite dieser Wahlen sollten wir alle sehr wachsam sein. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es «Wellen» gibt, die den grössten Teil des Globus überrollen, wie zum Beispiel nach dem Ersten Weltkrieg mit den faschistischen und kommunistischen Angriffen auf die liberale Demokratie.
Ich befürchte sehr, dass wir uns erneut an einem dieser kritischen Punkte befinden, an dem jede Handlung und jede Entscheidung von Bedeutung ist.
Welche Wechselwirkungen sehen Sie zwischen verschiedenen nationalen Kampagnen und Wahlen in verschiedenen Teilen der Welt?
Wahlen spiegeln die verschiedenen Ebenen wider, auf denen wir unser Leben führen. In gewisser Weise sind die Themen in diesem Superwahljahr – Klimawandel, Migration, Krieg, künstliche Intelligenz und der Fortbestand der Demokratie – global. Wir lesen über diese Themen und verstehen, dass globale Massnahmen erforderlich sind.
Aber gleichzeitig bleiben Wahlen eine nationale oder sogar lokale Angelegenheit. Wir wählen die Kandidierenden in unseren Wahlkreisen, sie führen den Wahlkampf auf lokaler Ebene, in manchen ländlichen Gebieten haben einige Wählende einen unverhältnismässig grossen Einfluss.
Die Demokratie ist in diesem Sinne eine vorglobalisierte Form des Regierens geblieben, die dem Ausmass der Probleme, für die die Bürger:innen Lösungen erwarten, nicht mehr gerecht zu werden scheint. Einzelne Länder scheinen bei der Bewältigung dieser Probleme machtlos zu sein.
Wie können Demokratien dem begegnen?
Die internationale Koordination ist schwierig. Meistens findet sie in internationalen Organisationen statt, die nicht direkt gewählt werden. Das erleichtert zwar die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Aber es bleibt der Eindruck, dass diese Organisationen kaum einen Bezug zu den Bürgerinnen und Bürgern haben und weit von deren Alltagsproblemen entfernt sind. Es ist ein schwieriges Gleichgewicht, und viele Menschen sind deshalb unzufrieden. Die Lösung besteht aber nicht darin, alles über den Haufen zu werfen. Ansätze zu einer Lösung finden sich jedoch in der Prüfung möglicher Verbesserungen.
Warum sollte sich eine einzelne Bürgerin, die nur in einem Land mitentscheiden kann, für die Wahlen überall in der ganzen Welt interessieren?
Wir leben in einer stark vernetzten Welt. Das bedeutet, dass das, was in einem Land geschieht, Auswirkungen auf viele andere Länder haben kann, insbesondere in Europa, wo die wichtigsten Entscheidungen auf der Ebene der Europäischen Union getroffen werden.
Darüber hinaus beeinflussen sich die Länder zunehmend gegenseitig auf sehr eindeutige Weise. Ich denke etwa an den Einfluss einiger US-amerikanischer Ideologen auf populistische rechtsextreme Parteien in Europa. Aber auch an illegale Einflussversuche durch Hacker, die von autoritären Regierungen gesponsert werden. Auch die Migration verbindet die Wählenden über Ländergrenzen hinweg.
Viele Migrantinnen und Migranten behalten das Wahlrecht in ihren Herkunftsländern, und manchmal organisieren Parteien Kampagnen im Ausland, um die Ausgewanderten zu mobilisieren. All dies verbindet Wahlen zwischen verschiedenen Ländern in noch nie dagewesener Weise.
Die Schweiz als eine ziemlich alte und erfahrene Demokratie bietet – zumindest was die direktdemokratischen Praktiken angeht – manchmal international Anregungen für die Umsetzung von Volksabstimmungen. Gilt das bei Wahlen ebenso?
Prinzipiell schon, weil die Schweiz weltweit als ein wohlhabendes, friedliches und effizientes Land wahrgenommen. Ihr politisches Modell wird jedoch oft missverstanden. Das Verhältnis zwischen direkter und indirekter Demokratie ist komplex und von aussen schwer zu verstehen. Das gilt auch für das auf Kompromissen beruhende Konsensprinzip.
In der internationalen Berichterstattung über die Schweiz steht stattdessen die einwanderungs- und europafeindlichen Volksabstimmungen mit fremdenfeindlichen Untertönen im Fokus. Dies ist bedauerlich, denn auf diese Weise wird ein reichhaltiges politisches System auf etwas Simples und Oberflächliches reduziert.
Auf die Gefahren und Risiken haben sie bereits in ihrer ersten Antwort hingewiesen. Was sind denn die möglichen positiven Auswirkungen des anstehenden «Superwahljahres»?
Wahlen sind Momente, in denen viele Dinge möglich werden. Meine Hoffnung ist natürlich, dass sie eine Gelegenheit bieten, die Demokratie zu stärken. Aber Chancen werden durch Handlungen und Entscheidungen geschaffen. Sie fallen nicht vom Himmel.
Jeder Beschluss im neuen Jahr wird darüber entscheiden, ob eine Wahl die Demokratie stärken kann oder nicht. Da spielen auch die Kandidierenden, die Kampagnen, der Ton der Debatten und die Ehrlichkeit der Argumente eine Rolle. Es geht um Entscheide führender Politikerinnen und Politiker, aber auch um Beschlüsse einzelner Bürgerinnen und Bürger. Wir alle müssen die Verantwortung für unsere Beschlüsse tragen.
Ich glaube, die Welt steht vor einem entscheidenden Jahr für die Zukunft der Demokratie. Aber ich bin nicht fatalistisch: Chancen entstehen durch Handeln. Die Stärkung der Demokratie ist möglich, wir sind nicht durch ein «Schicksal», das man nicht ändern kann, zu ihrer Schwächung verdammt.
Was braucht es also, um demokratische Praktiken und Menschenrechte besser zu schützen?
Es braucht die Einsicht, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz unserer Rechte als freie Bürgerinnen und Bürger nicht nur die Aufgabe von Eliten, sondern von allen ist. Und es erfordert die Einsicht, dass diese Aufgabe Mühe und Zeit erfordert.
Ein Bürger, eine Bürgerin zu sein, ist anspruchsvoll: Wir müssen informiert sein und in der Lage sein, verschiedene Positionen zu vergleichen, und wir müssen offen und tolerant diskutieren – auf der Grundlage von Fakten und komplexen Sachverhalten. Bürgerinnen und Bürger müssen sich auf der Grundlage von fundierten Debatten und Informationen beteiligen. Das ist es, was Demokratien stark macht.
Wut und Bauchgefühle haben ihre Berechtigung, aber nur insofern, dass sie eine zivile und rationale Debatte auf der Grundlage von Fakten nicht ersetzen. Dies ist umso wichtiger, wenn Parteiführerinnen und Parteiführer die Institutionen untergraben, wenn Geld eine zu grosse Rolle im Wahlkampf spielt und wenn Gerichte und Medien politisiert werden. Von den Wählenden wird Kritikfähigkeit verlangt. Zu viele glauben heute blindlings den Lügen, die ihnen von manipulativen Politikern aufgetischt werden.
Und worauf freuen Sie sich am meisten im «Superwahljahr» 2024?
Für mich sind Wahlen und Abstimmungen immer wieder wunderbare Momente, in denen die Möglichkeit der Bürgerinnen und Bürger gefeiert wird, eine politische Stimme zu haben. Wenn dies in einem solchen Ausmass wie 2024 geschieht, gibt das Hoffnung. In der Menschheitsgeschichte gibt es das Recht, Führungskräfte auszuwechseln und über Vorschläge abzustimmen, erst seit kurzem. Das sollten wir nicht vergessen. Es ist ein seltenes Privileg, das wir als heutige Generation haben, und eines, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich weltweit eingeführt wurde.
Die Generationen vor uns haben dafür gekämpft und dazu beigetragen, dass wir als Menschheit unglaubliche Fortschritte gemacht haben. Kein anderes politisches System ist in der Lage, ein ähnliches Mass an Freiheit und Wohlstand zu garantieren, wie die Demokratie. Wir dürfen nicht zulassen, dass dies gefährdet wird.
Editiert von Benjamin von Wyl
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