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«Wenn Verzweiflung steigt, zählt Risiko nicht»

Allein seit Anfang dieses Jahres sind in Italien 16'900 Migranten angekommen. Unter ihnen viele Frauen und Kinder. Keystone

Die Art und Weise, wie Europa den Flüchtlingsstrom einzudämmen versucht, ist gescheitert. Anstatt die Tore zu schliessen, sollte man den Flüchtlingen mehr Schutz bieten und nach Lösungen in den Herkunftsländern suchen. Dies bekräftigt der Priester und Kandidat für den Friedensnobelpreis 2015, Mussie Zerai, im Gespräch mit swissinfo.ch.

Der eritreische Priester Mussie Zerai, der sich unermüdlich für die Migranten und Flüchtlinge einsetzt, ist erschöpft. Er hat genug von den Toten im Mittelmeer, den Schleppern und der heuchlerischen Haltung der internationalen Gemeinschaft.

Laut dem eritreischen Priester Mussie Zerai muss jedes Land seine Verantwortung übernehmen. AFP

Wir treffen ihn im katholischen Pfarramt von Erlinsbach im Kanton Solothurn, wo er sein Amt ausübt. Sein Telefon klingelt unaufhörlich. «Es ist eine Gruppe von 200 eritreischen Flüchtlingen, die jetzt in Libyen sind und in den nächsten Tagen auf ein Schiff sollten. Auch sie fürchten sich davor zu ertrinken. Ich kann nichts anderes tun, als ihnen Trost zu spenden», sagt er.

swissinfo.ch: Die Staats- und Regierungschefs der EU haben beschlossen, die Mittel für die Operation Triton im Mittelmeer zu verdreifachen. Reicht mehr Geld aus, um die Tragödie auf dem Meer zu beenden?

Mussie Zerai: Nein, auch deshalb nicht,  weil weder der Zweck noch das Mandat der Operation Triton geändert wurde, es ist und bleibt ein Programm zur Überwachung der Grenzen. Es werden weder Personen gesucht noch gerettet, wie das bei Mare Nostrum der Fall war. Man kann mit der Militarisierung des Mittelmeers fortfahren, doch die Menschen werden weiterhin sterben.

Eritreischer Priester 

Mussie Zerai wurde 1975 in Asmara, Eritrea, geboren. Mit 16 Jahren stellte er in Italien einen Asylantrag.

Bevor er den Migranten vom Horn von Afrika, die nach Italien kamen, seine Hilfe anbot, studierte er in Rom Theologie und Philosophie.

Zusammen mit Freunden gründete er 2006 die Vereinigung Habeshia, deren Ziel es ist, die  Migranten und Flüchtlinge in Belangen mit den Behörden und bei der Integration im Aufnahmeland zu unterstützen.

Nach der Priesterweihe 2010 wurde er zur Stimme von tausenden Menschen auf der Flucht aus ihren Heimatländern, indem er bei Behörden und internationalen Organisationen die Missstände anprangerte, denen die Flüchtlinge ausgesetzt sind..

Das Institut für Friedensforschung in Oslo hat ihn zum Kandidaten für den Friedensnobelpreis 2015 vorgeschlagen.

Mussie Zerai lebt seit drei Jahren in der Schweiz, zuerst in Freiburg und nun in Erlinsbach im Kanton Solothurn, wo er als Seelsorger für die eritreische und äthiopische Diaspora arbeitet.

swissinfo.ch: Hätte «Mare Nostrum» die Tragödie vom letzten Sonntag, bei der über 800 Menschen ertrunken sind, verhindern können?

M. Z.: Ich denke schon. Wer mit Mare Nostrum Hilfe leistete, wusste wie agieren. Heute ändern Handelsschiffe ihre Routen und müssen Aufgaben übernehmen, für die sie nicht gerüstet sind. Vergleicht man die letzten Monate von 2015 mit jenen im gleichen Zeitraum von 2014, so sind in diesem Jahr bereits mehr als 1700 Personen umgekommen, im letzten Jahr waren es 54. Und man kann nicht sagen, dass der Flüchtlingsstrom geringer war.

swissinfo.ch: Die EU hat einen 20-Punkte-Plan vorgestellt. Was halten Sie davon?

M. Z.: Die Ausgangslage ist falsch: Man überlegt, wie man die Tore zu Europa schliessen und nicht, wie man Menschen auf der Flucht schützen kann. Die EU sagt, dass sie die Asylanträge in Griechenland und Italien gemeinsam behandeln will, doch gleichzeitig kündigt Grossbritannien an, niemanden aufzunehmen. Wenn alle so handeln, wo sollen wir die geretteten Personen hinschicken?

Der Plan der EU hätte nur einen Sinn, wenn jedes Land seine Verantwortung wahrnehmen würde. Alle müssen ihren Beitrag leisten und zwar nicht nur bei der Rettung, sondern auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Jedes Land müsste beispielsweise jährlich eine bestimmte Anzahl von Bootsflüchtlingen aufnehmen.

swissinfo.ch: Was halten Sie vom Vorschlag, den Schleppern das Handwerk zu legen, indem man die Boote bereits vor Inbetriebnahme zerstören würde, sogar vor der libyschen Küste?

M. Z.: Gute Idee, doch wie soll man das machen? Eine solche Aktion setzt die Mitwirkung des involvierten Staates voraus. Im Fall von Libyen hat die von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Regierung keine Kontrolle mehr über das Land. Die Alternative wäre, den Krieg zu erklären.

Auch wenn man die Schlepperboote in Libyen zerstören würde, stünden in Tunesien, Algerien bereits neue bereit. Es handelt sich dabei bloss um kosmetische Eingriffe, die auf die Ursachen des Exodus keine Wirkung haben. Wir können alle erdenklichen Mauern hochziehen, die Schlepper werden immer einen Weg finden.

swissinfo.ch: Sind die Schaffung von Fluchtkorridoren nach Europa und von Flüchtlingscamps in Nordafrika ein Teil der Lösung?

M. Z.: In Afrika existieren bereits Flüchtlingslager. Sie sind schlecht geführt und wurden  zum  Auffangbecken, aus dem sich die Schlepper bedienen. Es bringt nichts, ähnliche Strukturen aufzubauen. Anstatt die Menschen zu schützen, werden sie der Gefahr ausgesetzt. Wir können auch nicht den afrikanischen Kontinent entvölkern, indem wir Überfahrten organisieren. Man muss das Problem an der Wurzel packen.

swissinfo.ch: Und wie?

M. Z.: Es müssen alle Mittel eingesetzt werden, um die diktatorischen Regimes in Afrika zu stürzen. Ich bin Priester und folglich widersetze ich mich militärischen Interventionen. Doch man kann auf anderer Ebene Druck ausüben – politisch, wirtschaftlich,  man kann die Opposition unterstützen, die sich für ein demokratisches System einsetzt.

Operation im Mittelmeer

Mare Nostrum: Die Operation der italienischen Marine hatte zum Ziel, die Menschen in Seenot zu schützen und zu retten und die Schlepper aufzugreifen. Die Schiffe konnten bis dicht an die libysche Grenze vorstossen, um Hilfe zu leisten. Die Operation Mare Nostrum wurde 2013 lanciert und ein Jahr später wieder eingestellt. Die Kosten beliefen sich auf 120 Millionen Euro.

Triton: Die neue Frontex-Mission Triton soll die Aussengrenzen Italiens besser überwachen und vor illegaler Migration schützen. An der Mission beteiligen sich 15 Länder, darunter auch die Schweiz. Sie wurde Im November 2014 gestartet und hat ein monatliches Budget von 2.9 Millionen Euro. Die Staats-und Regierungschefs der EU wollen nun das Budget auf 9 Millionen Euro erhöhen.

swissinfo.ch: Das letzte Schiffsunglück im Kanal von Sizilien hat die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Doch wie viele Leute sterben bereits, bevor sie überhaupt auf ein Schiff kommen?

M. Z.: Es gibt keine Zahlen. Viele sterben in der Wüste, in den Gefängnissen. Vorgestern wurde ich aus Misurata angerufen. Mir wurde gesagt, lokale Milizen stritten sich um eine «Ware» – eine Gruppe von 60 Flüchtlingen. Bei der Auseinandersetzung verloren drei eritreische Burschen ihr Leben und am Vortag wurden 50 Frauen von bewaffneten Männern vergewaltigt. Niemand weiss,  was mit ihnen geschehen ist. Darüber gibt es keine Statistiken wie bei den Fluchten übers Meer.  Es ist unmöglich zu erfahren, wie viele kleine Gummiboote gesunken sind, ohne dass jemand dies bemerkt hätte.

swissinfo.ch: Wie werden diese Tragödien in den Herkunftsländern der Flüchtlinge erlebt?

M. Z.: Wenn die Verzweiflung ins Unermessliche steigt, vor allem unter den Jungen, die keine Zukunft haben, ist Europa die einzige Hoffnung. Die Risiken der Reise zählen nicht, vergleicht man sie mit jenen, denen sie tagtäglich in ihren Ländern ausgesetzt sind.

swissinfo.ch: Sie leben seit 2011 in der Schweiz. Was erwarten Sie von unserem Land?

M. Z.: Dass die Schweiz ihren Teil beiträgt, indem sie einen Anteil dieser Menschen aufnimmt und sich an der Suche nach Lösungen in den Herkunftsländern beteiligt. Letztes Jahr hat sie das Dubliner-Abkommen rigoros angewendet und 2000 Eritreer wieder nach Italien geschickt. Doch die Aufnahme auf dem eigenen Territorium ist eine Form der Solidarität, nicht nur gegenüber den Asylbewerbern, sondern auch gegenüber Italien.

swissinfo.ch: Am Dienstag, 28. April, werden Sie im Europaparlament auftreten. Was wird Ihre Botschaft sein?

M. Z.: Zuallererst muss ein Gesinnungswandel stattfinden: Die Migranten sind weder Abenteurer noch Touristen. Es handelt sich hier um Menschen, die flüchten, weil sie in ihrem Land keine Zukunft haben, sie versuchen, ihre Haut zu retten.

Gehen wir in die Herkunftsländer, und suchen wir Lösungen vor Ort. Sicher, das braucht Zeit. Deshalb ist eine Zwischenlösung notwendig, um die Leute in den Transitländern zu schützen und in den Nachbarländern Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben, für Ausbildung und Arbeit  zu schaffen. Schliesslich müssen wir die Massnahmen ändern, mit denen wir solchen Dramen begegnen, angefangen mit dem Dubliner Abkommen.

Es kann nicht sein, dass die Menschen in Länder wie Griechenland oder Italien gelockt werden, wo eine menschenwürdige Aufnahme nicht garantiert ist. Wenn eine Person einen Verwandten in der Schweiz  oder in Schweden hat, muss es möglich sein, dorthin zu reisen. Es erstaunt nicht, dass man so viele Schwangere oder Kinder auf den Booten sieht. Für sie ist es schwierig geworden, ein Visum für einen Familiennachzug zu erhalten.

swissinfo.ch: Finden Sie es nicht seltsam, dass ein Priester vor dem Europaparlament über Migranten und Flüchtlinge sprechen muss?

M. Z.: Nein, das Parlament ist das Haus für alle, ein Raum für die Suche nach Lösungen. Ich finde es jedoch seltsam, dass ein Priester sich so exponieren und intervenieren muss. Oder vielleicht müsste es doch ein Abgeordneter sein, der zu handeln bereit ist…

Übertragung aus dem Italienischen: Christine Fuhrer

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