Wenn zwei Länder Erbschaftssteuern fordern – und keines nachgeben will
Der Kampf von zwei Erben, die von der Schweiz und Frankreich doppelt besteuert werden, wird zum Politikum. Eine Motion fordert den Bundesrat auf, ein neues Abkommen mit Paris auszuhandeln, um solche Fälle zu vermeiden. Frankreich scheint jedoch nicht gewillt, darauf einzutreten.
«Wir sind Opfer der Unstimmigkeiten zwischen der Schweiz und Frankreich», beklagt sich Joël Roux. Der 68-jährige Rentner aus Lyon und sein 73-jähriger Bruder Patrick sind sehr verärgert über die Regierungen der beiden Länder.
Die Geschichte der Brüder Roux, welche die Tribune de Genève aufgedecktExterner Link hatte, ist die Geschichte eines Erbes, das sich in ein vergiftetes Geschenk verwandelte.
Im Dezember 2018 stirbt ihr Schweizer Cousin in einem Altersheim in Genf. Dieser hinterlässt ihnen 125’000 Euro, die er auf einem Konto in Frankreich hält.
«Wir waren geografisch weit voneinander entfernt, aber in unseren Herzen nah beieinander. Er war glücklich, dass er uns dieses Erbe hinterlassen konnte», erzählt Joël Roux. Er hatte jedoch nicht mit dem Appetit der Steuerbehörden gerechnet.
Da der Cousin in der Schweiz verstorben ist, besteuert die Schweiz das Vermächtnis mit 55%, das entspricht 68’831 Euro.
Zunächst schien die Sache nach allen Regeln der Kunst abgewickelt zu werden. Die böse Überraschung folgt jedoch ein Jahr später, als der französische Fiskus die Erben seinerseits mit 60% besteuert, was einem Betrag von 75’088 Euro entspricht.
Insgesamt wird das Erbe also mit 115% besteuert. Anstatt 125’000 Euro zu erhalten, müssen die französischen Brüder 19’000 Franken draufbezahlen!
Missstimmung zwischen der Schweiz und Frankreich
Wie konnte es passieren, dass die Brüder Roux doppelt besteuert wurden? Der Ursprung des Problems geht auf das Jahr 2011 zurück. Frankreich erklärte damals, es wolle das 1953 zwischen Frankreich und der Schweiz abgeschlossene Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Erbschaftssteuern aufkündigen.
Frankreich ist der Ansicht, dass das Abkommen nicht mehr den Bestimmungen des französischen Rechts entspricht. Die Schweiz hingegen würde den Text lieber überarbeiten als ihn zu begraben.
Die beiden Länder nehmen daraufhin Verhandlungen auf und unterzeichnen 2013 ein neues Abkommen. Das französische Parlament weigert sich jedoch, das Abkommen zu genehmigen, da es als zu wenig vorteilhaft erachtet wird. Schliesslich kündigte Frankreich das Abkommen.
Das Ergebnis dieses Steuerstreits ist, dass die Schweiz und Frankreich seit dem 1. Januar 2015 kein Doppelbesteuerungsabkommen für Erbschaftsangelegenheiten mehr haben. Dies kann zu Doppelbesteuerungen wie im Fall von Joël und Patrick Roux führen.
Ihr Fall ist bei weitem kein Einzelfall: Alle Schweizerinnen und Schweizer oder in der Schweiz lebende Französinnen und Franzosen, die Erbende in Frankreich haben, können ebenfalls mit diesem Problem konfrontiert werden.
Auch die rund 204’000 in Frankreich lebenden Schweizerinnen und Schweizer und ihre Angehörigen sind regelmässig von der Problematik der Doppelbesteuerung im Erbfall betroffen, wie die Auslandschweizer-Organisation (ASO) bestätigt.
Druck auf den Bundesrat wächst
«Mit einer solchen Situation können wir uns nicht zufriedengeben», empört sich der Mitte-Nationalrat Vincent Maitre. Er erinnert daran, dass einer der wichtigsten Grundsätze des internationalen Steuerrechts darin bestehe, die Bürgerinnen und Bürger nicht doppelt zu besteuern.
Der Genfer Politiker hat deshalb eine Motion eingereichtExterner Link, die den Bundesrat auffordert, die Verhandlungen mit Frankreich über ein Doppelbesteuerungsabkommen im Erbschaftsbereich wieder aufzunehmen.
Der Nationalrat räumt jedoch ein, dass der Bund nicht in einer starken Position ist. «Frankreich möchte ein Abkommen nicht neu verhandeln, wie mir Vertretende des französischen Staats gesagt haben», sagt Maitre.
Er ist jedoch der Ansicht, dass die Wiedereröffnung des Dossiers ein ausgezeichnetes Mittel wäre, um die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder aufzuwärmen. Diese haben nach der Weigerung der Schweiz, französische Kampfflugzeuge zu kaufen, gerade erst eine Eiszeit hinter sich. «Der Bundesrat sollte dies als diplomatisches Instrument nutzen, um das Vertrauen wiederherzustellen», sagt er.
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Die Schweizer Regierung weigert sich jedoch, darauf einzugehen. «Bei den Verhandlungen, die zum Abkommen von 2013 geführt haben, hat Frankreich der Schweiz in einigen Punkten Zugeständnisse gemacht. Es ist nicht sicher, ob Frankreich erneut bereit sein wird, solche Zugeständnisse zu machen», schreibt der Bundesrat in seiner Antwort auf die Motion Maitre.
Sollte Frankreich zu erneuten Verhandlungen bereit sein, «wäre die ausgehandelte Lösung höchstwahrscheinlich identisch oder weniger günstig als diejenige, die 2013 abgelehnt wurde», heisst es weiter.
Doch der Druck auf die Regierung ist gross: Die Motion wurde von Vertreterinnen und Vertretern der wichtigsten politischen Parteien mitunterzeichnet. Damit wäre Finanzministerin Karin Keller-Sutter gezwungen, neue Verhandlungen mit Paris aufzunehmen.
Frankreich und die Schweiz spielen sich gegenseitig den Ball zu
Weil es auf politischer Ebene nicht vorangeht, setzen Joël und Patrick Roux Himmel und Hölle in Bewegung, um ihren Fall zu lösen – bisher ohne Erfolg. «Der französische Fiskus wäscht seine Hände in Unschuld und sagt mir, die Schweiz sei schuld, und umgekehrt», seufzt Joël Roux. Der Rentner hat sogar einen Brief an alle 577 Abgeordneten der französischen Nationalversammlung geschrieben. Ohne Erfolg.
Um zu seinem Recht zu kommen, hat sich der Franzose schliesslich einen Anwalt genommen. Der sieht eine Lösung: «Wir werden die Verfassungsmässigkeit des französischen Gesetzes anfechten, das die Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend vor Doppelbesteuerung schützt», sagt Loïc Soubeyran-Viotto. Das Verfahren könnte allerdings mehrere Jahre dauern.
Für Joël Roux ist die Situation schwer zu ertragen. Er war erschöpft von den Behördengängen und erlitt einen Nervenzusammenbruch. «Mein Bruder und ich haben das schreckliche Gefühl, dass Frankreich und die Schweiz einen Toten gestohlen haben», lautet sein bitteres Fazit.
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub
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