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Wer hat Angst vor der Präimplantations-Diagnostik?

Für ihre Anhänger bietet die Präimplantations-Diagnostik mehr Sicherheit für Mutter und Kind. Für ihre Gegner ist sie eine unzulässige Art, mit dem menschlichen Leben zu spielen. Keystone

Soll in der Schweiz die Früherkennung schwerer Krankheiten bei "Retortenbabys" zugelassen werden, wie das auch in Nachbarländern der Fall ist? Dies ist eine Frage, die das Schweizer Stimmvolk am 14. Juni beantworten muss. Sollten Volk und Stände der Verfassungsänderung zustimmen, ist mit einem Referendum gegen die damit verbundene Gesetzesreform zu rechnen.

PID steht für Präimplantations-Diagnostik. Dabei geht es um eine Gen-Analyse bei im Reagenzglas entwickelten Embryonen, bevor diese in den Körper der Frau eingepflanzt werden. Die PID ist jedoch im Artikel 119 der Bundesverfassung nicht erwähnt, bei dem es um künstliche Befruchtung und Gentechnik geht. Und auch nicht im Änderungsvorschlag zum genannten Artikel, über den sich die Stimmberechtigten am 14. Juni äussern…

Eine minime Änderung im Text mit grossen Folgen: Mit dem heute geltenden Fortpflanzungsmedizin-Gesetz dürfen bei einer künstlichen Befruchtung maximal drei Embryonen in vitro entwickelt werden. Wird der Änderungsvorschlag angenommen, wird man so viele Embryonen erzeugen können, «wie für die künstliche Befruchtung nötig sind». Und das wären 12.

Wieso zweimal abstimmen?

Wie jede Verfassungsänderung muss auch die Revision von Artikel 119 über die künstliche Befruchtung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.

Sollte die Vorlage am 14. Juni angenommen werden, wird die Regierung die Gesetzesänderung publizieren, die vom Parlament bereits angenommen wurde.

Ab diesem Zeitpunkt kann eine Gegnerschaft dagegen das Referendum ergreifen. Dazu braucht es 50’000 Unterschriften innert 100 Tagen.

Sollten diese in dieser Frist zusammenkommen, werden die Stimmberechtigten erneut an die Urne gerufen.

Nach langen Debatten haben die beiden Parlamentskammern schon einen Gesetzestext verfasst. Neben der Entwicklung von 12 Embryonen pro Behandlungszyklus soll die Früherkennung unheilbarer Krankheiten und genetischer Anomalitäten (wie Trisomie 21) erlaubt sein. Ebenfalls zugelassen wäre das Einfrieren von Embryonen. Dies würde es angesichts der risikoreichen Mehrlingsschwangerschaften möglich machen, nur einen Embryo aufs Mal einzupflanzen und die restlichen für weitere Versuche aufzubewahren.

Verworfen wurde von den beiden Kammern jedoch die Möglichkeit, so genannte «Retter-Babys» zu zeugen, die den alleinigen Zweck hätten, für kranke Geschwister Gewebespenden zu liefern.

Auch wenn dieses Gesetz im Vergleich zu jenen in den meisten westlichen Ländern restriktiv erscheint, ist es doch in den Augen gewisser Kreise zu liberal. Die Evangelische Volkspartei (EVP) hat bereits mit dem Referendum gedroht, um eine zweite Abstimmung herbeizuführen. Um die nötigen 50’000 Stimmen zusammenzubringen und eine Kampagne zu führen, kann sie mit der Unterstützung aller Seiten rechnen. Bei solch hochemotionalen Themen bilden sich die Lager eher gemäss individueller Überzeugung statt nach Parteizugehörigkeit.

«Eine Türe öffnen… wofür?»

Marco RomanoExterner Link, christlichdemokratischer Nationalrat aus dem Kanton Tessin, betont, dass seine Einstellung «absolut nicht religiös bestimmt» sei. Zu Beginn der Debatte sei er «eher für» die PID gewesen. Nach einem Besuch in einer Klinik für Fortpflanzungsmedizin in Lugano habe er seine Meinung jedoch geändert. «Ich habe den Film gesehen, den ich nicht sehen wollte. Ich habe lange mit einem Professor geredet und bekam den Eindruck, dass die Spezialisten alles, was die Technik möglich macht, nutzen wollen. Auf die Gefahr hin, mit dem Leben zu spielen, es zu relativieren, gar zu banalisieren», erzählt er.

«In den USA dienen 10% der Analysen dazu, das Geschlecht der Kinder zu bestimmen. Und bei uns haben die Debatten im Parlament sehr klar gezeigt, dass gewisse Abgeordnete weiter gehen möchten. Wenn man die PID zulässt, öffnet man eine Türe und weiss nicht, wohin das führen wird.»  

Behinderten-Verbände sind gespalten

Intégration HandicapExterner Link begrüsst die Reform, die «Paaren mit schweren erblichen Veranlagungen die Möglichkeit gibt, dass diese nicht an ihre Kinder weitergegeben werden», sagt Caroline Hess Klein, Leiterin Fachstelle Égalité Handicap.

Eine Koalition von 17 Organisationen ruft jedoch dazu auf, am 14. Juni Nein zu stimmen. Zu ihnen gehört Agile.chExterner Link. Mit einer Zulassung der PID müssten sich die Eltern allenfalls vorwerfen lassen, «dass sie die Wahl hätten, aber nicht machten, was als gut erachtet werde», sagt Magali Corpataux von der Westschweizer Sektion.

Beide Organisationen sind jedoch gegen den Gesetzesentwurf, der im Parlament verabschiedet wurde. Ihrer Ansicht nach geht der Text zu weit. «Wir befürchten, dass mit dieser Möglichkeiten die Gesellschaft darüber entscheiden wird, welches Leben wertvoll und welches nicht lebenswert ist», betont Hess Klein.

(Quelle: RTS)

Dennoch: In der Schweiz ist die pränatale Diagnostik beim Fötus bereits erlaubt. Die Untersuchungen können dazu führen, dass sich die Eltern für eine Abtreibung entscheiden, die bis zur 12. Woche erlaubt ist. Dies kann Romano akzeptieren. «Manchmal ist das notwendig. Aber mit der Präimplantations-Diagnostik geht man einen Schritt weiter. Hier geht es um Selektion, die Tendenz, ein Kind nach Mass zu machen. Für mich ist dies der Moment, Stopp zu sagen. Die Möglichkeit, noch mehr Selektion zu betreiben, dazu will ich nicht Hand bieten», sagt der CVP-Politiker.

«Dem Leiden nicht noch mehr Leiden zufügen»

«Man muss klar kommunizieren, was dies Paaren ermöglichen würde, statt in diese Fantasievorstellungen über die künstliche Befruchtung zu verfallen», erklärt Liliane Maury-PasquierExterner Link. Aus ihrer Praxis als Hebamme kennt die sozialdemokratische Ständerätin aus Genf den «Hindernislauf», der zu einer In-vitro-Befruchtung führt. Da ist der unerfüllte Kinderwunsch, der Schock einer Unfruchtbarkeits-Diagnose und/oder eine schwere übertragbare Krankheit. «Situationen, die sehr belastend und schwierig sein können.»

«Wenn ein Paar sich für eine In-vitro-Befruchtung entscheidet, hat es schon eine lange Geschichte hinter sich», sagt die Ständerätin, Mitglied der zuständigen Parlaments-Kommission. «Irgendwann ist dann da ein Embryo, der eingepflanzt werden kann. Ohne PID (viele Paare gehen dafür ins Ausland – Anm. d. Red.) beginnt eine Schwangerschaft, wo die Frau hofft, dass es gut kommt… oder eben Angst davor hat, was man mit der PID hätte ans Licht bringen können. Und das sind lange Wochen der Unsicherheit…»

Für Maury-Pasquier ist das Urteil klar: Mit der PID «verhindert man, dass dem Leiden nicht noch mehr Leiden zugefügt wird, nämlich mit mehr Sicherheit für die Mutter und die Zukunft des potenziellen Kindes».

Freiheit und Notwendigkeit

Marco Romano streitet keineswegs ab, dass die Schweiz – wie alle «alternden» Länder – mehr Kinder braucht. Für ihn ist ein Kind aber «ein Geschenk, sicherlich das grösste, das man bekommen kann, aber kein Recht. Darüber kann man keine Gesetze erlassen. Heute besteht die Tendenz, für alles Gesetze zu haben. Wenn ich sehe, was in anderen Ländern passiert, die Möglichkeiten, welche die Technik bietet, dann macht mir das Angst».

Laut Liliane Maury-Pasquier muss «der Entscheid, ein Kind in die Welt zu setzen oder ein behindertes Kind zu haben oder nicht, eine höchst persönliche Wahl bleiben. Mit der vorgeburtlichen Diagnostik überlässt man diesen Entscheid den Eltern. Diesen sollte man ihnen auch bei der PID überlassen. Spricht man von Menschenwürde, dann verdient diese ein 12 Wochen alter Fötus mehr als ein 5-tägiger Embryo.»

(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)

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