Werden dem Parlament die Zähne gezogen?
Mit einer Initiative nachdoppeln, um einen Volksentscheid wortwörtlich umzusetzen. Auf diese Weise soll die Ausschaffung krimineller Ausländer mehr Schub erhalten. Die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei hat damit das Arsenal der direkten Demokratie der Schweiz um ein neues – kontroverses – Instrument ergänzt.
Ist sie ein «Druckmittel», ein «Missbrauch der Volksrechte», die «Aushebelung der Gewaltentrennung» oder schlicht «unnötig», wie sie der Bundesrat bezeichnet? Die Kritik, welche über die von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) an die Urne gebrachte Durchsetzungs-InitiativeExterner Link aus breiten Kreisen hereinhagelt, ist massiv.
Mit ihrer Initiative «Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer» will die nationalkonservative Partei ihrer Ausschaffungs-InitiativeExterner Link doch noch wortgetreu zum Durchbruch verhelfen.
Volksinitiative
Die Volksinitiative erlaubt, eine Änderung in der Bundesverfassung vorzuschlagen. Damit sie zu Stande kommt, müssen innerhalb von 18 Monaten 100’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht werden.
Darauf kommt die Vorlage ins Parlament. Dieses kann eine Initiative direkt annehmen, sie ablehnen oder ihr einen Gegenvorschlag entgegenstellen. Zu einer Volksabstimmung kommt es in jedem Fall.
Angenommene Initiativen werden in der Bundesverfassung verankert und müssen auf Gesetzesstufe umgesetzt werden, also letztlich durch das Parlament.
Denn das Parlament hat diese im März nicht gemäss dem Wunsch ihrer Initianten umgesetzt. Es hat nämlich eine Klausel eingebaut, die im Initiativtext nicht vorgesehen war. In schweren persönlichen Härtefällen soll von einer automatischen Ausschaffung krimineller Ausländer abgesehen werden.
Weil die Bundesbehörden bei der Umsetzung des 2010 angenommenen Begehrens getrödelt hätten und solche Änderungen zu erwarten gewesen seien, habe man sich im Frühsommer 2012 in der Parteileitung folgende Frage gestellt, erklärt SVP-Präsident Toni Brunner: «Was machen wir, wenn wir feststellen, dass der angenommene Verfassungsartikel nicht oder nur ungenügend umgesetzt wird?»
Eines der möglichen Instrumente sei eine neue Initiative zur Durchsetzung der Ausschaffungs-Initiative gewesen. «Wir haben sie dann Durchsetzungs-Initiative getauft», so Brunner.
Diese verlangt, dass die Ausschaffungs-Initiative direkt aus der Bundesverfassung umgesetzt wird. Das heisst, dass unter anderem der Katalog an Delikten, die zu einer Ausschaffung führen sollen, in der Bundesverfassung festgeschrieben werden soll.
Referendum keine Alternative
«Es ist insofern ein neues Instrument, als damit versucht wird, einen Beschluss des Parlaments umzustossen, beziehungsweise zu forcieren», sagt Politologe Marc Bühlmann. «Dafür diente bisher eigentlich eher das Referendum. Es ist, wenn man so will, eine Referendums-Initiative.»
Referendum
Das (fakultative) Referendum erlaubt, das Volk über ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz entscheiden zu lassen. Falls innerhalb von 100 Tagen 50’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht werden, kommt es zu einer Abstimmung.
Zu einem obligatorischen Referendum kommt es, wenn das Parlament Änderungen in der Bundesverfassung vornimmt.
Warum also nicht dieses Instrument gegen Gesetzesvorlagen einsetzen, für das nur die Hälfte der Unterschriften nötig ist? «Wir mussten befürchten, dass wir schliesslich ein Referendum ergreifen müssten gegen ein Gesetz, das vielleicht etwas besser ist als das alte, aber nicht dem Verfassungsartikel entspricht, den das Volk angenommen hat», sagt Brunner. Die Durchsetzungs-Initiative habe nur ein einziges Ziel: «Dem Volkswillen zum Durchbruch zu verhelfen.»
«Die Durchsetzungs-Initiative war aus parteistrategischer Sicht ein relativ schlauer Schachzug. Sie hat fast dazu geführt, dass die Ausschaffungs-Initiative so umgesetzt worden wäre, wie das die SVP gerne gehabt hätte», analysiert Bühlmann.
Kritischer betrachtet Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel, diese Art von Volksinitiativen: «Mit ihnen wird dadurch Wahlkampf gemacht, dass man ganz bewusst Völkerrechtsverletzungen und schwere andere Rechtsverletzungen provoziert. Diese Kombination erscheint mir neu. Und das ist sehr bedauerlich.»
Für ihn wird mit der Durchsetzungs-Initiative «der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, der unsere ganze Rechtsordnung durchzieht und der von zentraler Bedeutung ist, in zum Teil ganz erheblicher Weise verletzt».
Gewaltentrennung ausgehebelt?
Gewaltentrennung
Als die moderne Schweiz 1848 gegründet wurde, legten die Staatsgründer in der Bundesverfassung drei Ebenen der Gewalt fest: Legislative (Bundesversammlung, Parlament), Exekutive (Bundesrat, Landesregierung) und Judikative (Bundesgericht; heute mehrere Gerichte).
Diese drei Gewalten sind in einem Rechtsstaat voneinander getrennt (Gewaltentrennung, Gewaltenteilung), so dass es nicht zu einer Ansammlung von zu grosser Machtfülle in der Hand eines einzelnen Staatsorgans kommen kann.
Noch schwereres Geschütz fährt Wolf Linder auf. Der emeritierte Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern, sieht den Grundsatz der Gewaltentrennung in Gefahr.
«Das Problem ist, dass über eine Volksinitiative die Gewaltentrennung durchbrochen wird, indem direkte Anweisungen und Befehle an Parlament, Regierung und Gerichte gegeben werden. Wer Gesetze macht, soll sie nicht selbst durchsetzen, wer sie vollzieht, soll unabhängiger Kontrolle unterstehen. Dieser Grundsatz ist fundamental.» Internationale Vergleiche zeigten: «Ohne Gewaltentrennung keine Verfassung, und wo die Verfassung verloren geht, besteht die Gefahr des Abgleitens in ein autoritäres Regime.»
Allerdings gibt er zu bedenken, dass auch anderswo die Gewaltentrennung strapaziert werde, so etwa, wenn sich das Bundesgericht in Belange von Kantonen und Gemeinden betreffend Wahlregeln einmische.
Kurt Fluri, Nationalrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen) und Mitglied der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats, sieht das Parlament durch die Durchsetzungs-Initiative unter Druck gesetzt und die Gewaltentrennung unterlaufen.
«Das Volk setzt mit dieser Initiative via Verfassung gleich Gesetzesrecht», betont der Jurist. «Wenn nun das Volk direkt als Gesetzgeber auftritt, dann ist die Verfassung sicher nicht mehr im Sinn des Ursprungs.»
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«Gewaltentrennung, also bitte… Der Gesetzgeber kann sich auch nicht alle Rechte herausnehmen», reagiert Brunner. «Und die Gerichte: Wir haben in der Schweiz zunehmend eine Tendenz, wo wir feststellen, dass sich Gerichte plötzlich mit Verweis auf internationales Recht oder internationale Verträge um solche Volksentscheide foutieren.»
Damit Schweizer Recht gegenüber fremdem Recht Vorrang erhalten soll, hat seine Partei im März 2015 eine weitere Initiative lanciert: «Schweizer Recht statt fremde Richter».
Spielraum des Gesetzgebers
Mit der Durchsetzungs-Initiative will die SVP erreichen, dass ihre Ausschaffungs-Initiative buchstabengetreu umgesetzt wird. Es sei aber nicht im Sinn der Verfassung, «derart detaillierte Bestimmungen gleich selbst zu regeln», moniert Fluri. Denn das Parlament als Gesetzgeber hat die Aufgabe, eine Initiative nach Annahme durch das Stimmvolk in ein Gesetz umzuformulieren. Diesen Spielraum sieht Fluri massiv eingeschränkt. «Das Parlament hat seinen Auftrag nicht erledigt», kontert Brunner.
Die Umsetzung von Initiativen ist eine Aufgabe, die das Parlament erst seit einigen Jahren öfter beschäftigt. Seit der Einführung des Instruments der Volksinitiative wurden 22 angenommenExterner Link. Waren es zwischen 1893 und 1949 sieben Volksbegehren, wurden seit 1982 nicht weniger als 15 angenommen, seit 2008 praktisch im Jahrestakt. 2014 waren es erstmals in einem Jahr zwei.
«Das Verfassungsrecht sollte sich auf Grundnormen der Organisation und der staatlichen Aufgaben beschränken. Dann hat das Parlament in der Gesetzgebung einen ausreichend grossen Spielraum», erklärt Linder.
Fluri betont, dass in diesem konkreten Fall die Durchsetzungs-Initiative direkt umsetzbar wäre und das Parlament in der Umsetzung keinen Spielraum hätte. «In der Präambel der Durchsetzungs-Initiative steht ausdrücklich, dass diese direkt anwendbar ist und keine Umsetzungs-Gesetzgebung mehr braucht», betont er.
«Kein Entscheid ist jemals sakrosankt», sagt hingegen Politologe Bühlmann. «Ich hatte am Anfang ähnliche Bedenken. Ich dachte, das ist die Aushebelung der Idee der direkten Demokratie.» Doch sachlich nüchtern betrachtet sei die Durchsetzungs-Initiative «nichts weiter als ein Anstoss von unten, der – sollte er angenommen werden – im Parlament wieder mit einem gewissen Spielraum debattiert werden wird».
Brunner findet es «eigentlich traurig, dass wir dieses Instrument anwenden müssen». Er hofft auch nicht, dass seine Partei erneut zu einer Durchsetzungs-Initiative wird greifen müssen. «Aber ausschliessen kann ich es nicht.» Die Durchsetzungs-Initiative kommt voraussichtlich im Lauf des Jahres 2016 an die Urnen.
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