Wie China die Menschenrechte umschreibt
Peking will seine eigene Vorstellung von Menschenrechten durchsetzen und das UNO-System seinem autoritären Regime anpassen. Der Kampf findet in den Sitzungssälen des Palais des Nations in Genf statt.
Während der hochrangigen Sitzung des Menschenrechtsrats im letzten Februar wurden Chinas Ambitionen, die globalen Standards zu verändern, deutlich sichtbar.
In einer Rede vor Staatsoberhäuptern, Ministerinnen und Ministern erklärte der inzwischen ersetzte chinesische Aussenminister Qin GangExterner Link, sein Land werde «einen chinesischen Weg der Menschenrechtsentwicklung» einschlagen, «der dem Trend der Zeit und den nationalen Bedingungen entspricht».
Seit dem Amtsantritt von Präsident Xi Jinping im Jahr 2012 hat Chinas zunehmend repressive Innenpolitik – von Xinjiang über Tibet bis Hongkong – bei NGOs und Fachleuten der Vereinten Nationen (UNO) wachsende Besorgnis über die Missachtung internationaler Menschenrechtsstandards durch die zweitgrösste Weltmacht ausgelöst.
«Ich glaube, China möchte, dass die UNO nur als technisches oder beratendes Gremium wahrgenommen wird, das nicht wirklich mit moralischer Autorität sprechen kann», sagt Rana Siu Inboden, Assistenzprofessorin an der University of Texas in Austin.
In den letzten Jahren wurde Pekings Verachtung für bestehende Normen auch in den Reden seines diplomatischen Korps bei Treffen im Palais des Nations in Genf deutlicher, dem europäischen Sitz der UNO.
Sie sagen, das höchste UNO-Menschenrechtsgremium solle sich auf einen «konstruktiven Dialog» konzentrieren, auf «Schuldzuweisungen» verzichten und Menschenrechtsfragen nicht als Vorwand für eine «Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder» nutzen.
Qin Gang betonte die Bedeutung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die in diesem Jahr ihr 75-jähriges Jubiläum feiert, als «Meilenstein der internationalen Menschenrechtsbewegung».
Angesichts der aktuellen Herausforderungen wie der Pandemie, dem Welthunger und dem Klimawandel stelle sich die Frage, «wie die Menschenrechte besser gefördert und geschützt werden können».
Als Antwort darauf rief er mehr Länder dazu auf, «nicht das Modell anderer zu kopieren», sondern ihren «eigenen Weg der Entwicklung der Menschenrechte» zu wählen, der ihren einzigartigen «historischen Hintergrund, ihr kulturelles Erbe, ihre nationalen Bedingungen und die Bedürfnisse der Menschen» berücksichtige. Gleichzeitig und etwas widersprüchlich betonte Qin Gang den «unveräusserlichen» Charakter der Menschenrechte.
Die Regeln zurechtbiegen
«Die chinesische Regierung will sicherstellen, dass das internationale System für autoritäre Länder günstig ist», sagt Teng Biao, ein chinesischer Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivist, der derzeit als Gastprofessor an der University of Chicago lehrt.
Die Teile des UNO-Menschenrechtssystems, die China ablehnt, sind die so genannten «Sonderverfahren» und «Vertragsorgane», in denen unabhängige Fachgruppen Menschenrechtsverletzungen untersuchen und überprüfen, wie Länder die von ihnen ratifizierten Verträge umsetzen.
China hat den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unterzeichnet und ratifiziert, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte aber nur unterzeichnet. Das bedeutet, dass es rechtlich nur an ersteren gebunden ist.
Peking argumentiert, dass die westlichen Länder den bürgerlichen und politischen Rechten zu viel Bedeutung beimessen, und möchte als Verfechterin der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wahrgenommen werden.
Dies, obwohl es im März von jenem UNO-Ausschuss heftig kritisiert wurdeExterner Link, der für die Überwachung der Einhaltung dieses Vertrags zuständig ist.
«Bei einem Grossteil des Menschenrechtssystems geht es um die Entwicklung von Standards und die Verabschiedung von Verträgen, um Berichterstattung und abstrakte Diskussionen über mögliche Verbesserungen», sagt Nicholas Bequelin.
Der Gastwissenschaftler an der Yale University und ehemalige Regionaldirektor für die Region Asien-Pazifik bei Amnesty International betont: «Peking will den Teil der Rechenschaftspflicht schwächen und abschaffen, in dem Länder benannt und spezielle Mechanismen eingerichtet werden.»
China ist nicht das einzige Land, das seine Macht nutzt, um Debatten zu beeinflussen und Verbündete in der UNO zu schützen. Die USA zum Beispiel lehnen regelmässig Anträge gegen Israel ab.
Auch andere Länder wie die Mitglieder der Bewegung der Blockfreien Staaten, einer Gruppe von 120 Staaten, die formell keinem Block angehören, haben in der Vergangenheit Argumente für Kooperation statt Konfrontation vorgebracht.
China verfolgt jedoch eine andere Strategie. «Jedes Land, dessen Menschenrechtsbilanz kritisiert wird, lehnt die Legitimität des Menschenrechtsrahmens ab», sagt Bequelin.
«Der Unterschied besteht darin, dass Peking über die diplomatischen und finanziellen Mittel verfügt, um viele Länder zu überzeugen, seiner Linie zu folgen und bei wichtigen Abstimmungen mit China zu stimmen.»
Diplomatische und wirtschaftliche Macht
Das deutlichste Beispiel dafür war Chinas letztjährige Intervention, eine Debatte im Menschenrechtsrat über seine Behandlung der Uigurinnen und Uiguren in Xinjiang zu verhindern. Diese könnte laut einem UNO-Bericht «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» darstellen.
Obwohl die Abstimmung knapp ausfiel (19 Nein-Stimmen, 17 Ja-Stimmen und 11 Enthaltungen), wurde damit ein negativer Präzedenzfall geschaffen. Er könnte Länder entmutigen, die sich China in Zukunft entgegenstellen wollen.
Vor der Veröffentlichung des Berichts im August 2022 hatte Peking sein ganzes diplomatisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um das UNO-Menschenrechtsbüro dazu zu bringen, das Dokument zu begraben.
Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichteteExterner Link, hatte Peking einen Brief an die diplomatischen Vertretungen in Genf verteilt, um ihre Unterstützung zu gewinnen. Darin forderte China die ehemalige UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet dazu auf, den Bericht nicht zu veröffentlichen.
Vor der Abstimmung hatte China eine zweistündige PressekonferenzExterner Link mit Vertretern der Regierung von Xinjiang in Genf abgehalten, um die Ergebnisse des Berichts zu widerlegen.
Im Rahmen seiner vor zehn Jahren gestarteten «Belt and Road»-Initiative hat Peking weltweit massiv in Infrastrukturprojekte investiert. Fachleute halten die Initiative für eine neue Seidenstrasse für eine Schuldenfalle für arme Länder, mit der China deren Abstimmungsverhalten in der UNO beeinflussen kann.
Human Rights Watch hat inzwischen Fälle dokumentiert, in denen Mitglieder des chinesischen diplomatischen Korps Aktivistinnen und Fachleute auf dem UNO-Gelände belästigt und eingeschüchtert haben. «Das geht über normale Diplomatie hinaus», sagt Inboden.
Bei wichtigen UNO-Abstimmungen wird China oft von autoritären Regierungen, aber auch von vielen Entwicklungsländern unterstützt.
«Ich denke, China ist sehr gut darin, eine harte konsequente Linie zu vertreten, warum es nicht legitim ist, Entwicklungsländer im Rahmen des internationalen Menschenrechtssystems zu kritisieren. Und es bietet jenen Ländern einen Schutzschild, die Zielscheibe solcher Kritik sind», sagt Bequelin.
«Es ist eine Kombination aus der Fähigkeit einer Grossmacht auf der internationalen Bühne, ihren diplomatischen Einfluss geltend zu machen, der in Entwicklungsländern viel grösser ist als in vielen anderen Ländern, und den Ressourcen, die sie bereit ist, in diese Bemühungen zu investieren», fügt er hinzu.
Westliche Werte
Bei den Vereinten Nationen werden chinesische Beamte nicht laut sagen, dass die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verankert sind, eine westliche Erfindung seien. Doch im eigenen Land schreckt die regierende Kommunistische Partei Chinas nicht vor diesem Narrativ zurück.
«Die chinesische Regierung argumentiert, dass Ideen wie Menschenrechte oder Demokratie aus westlichen Ländern kämen, dass China seine eigene Tradition und Kultur habe und diese Ideale der liberalen Demokratie nicht zu dem Land passten», sagt Teng, der diese Vorstellung als «unvernünftig» bezeichnet.
Die Realität ist komplexer. Hans Ingvar Roth, Professor für Menschenrechte an der Universität Stockholm, sagt: «Es ist nicht fair, die AEMR als westliches Dokument zu bezeichnen.»
«Die fünf Hauptautoren der AEMR waren nicht alle weisse Männer, es gab eine Vielfalt im Redaktionskomitee», sagt Inboden. Der stellvertretende Vorsitzende war ein chinesischer Diplomat namens Peng-Chun Chang.
«Seine Rolle war sehr wichtig. Einige der Kernpunkte des Dokuments gehen auf seine Ideen zurück», sagt Roth, der ein Buch über den Beitrag des chinesischen Diplomaten zur AEMRExterner Link geschrieben hat.
Chang, der damals die Regierung der Republik China vertrat, die nach dem verlorenen Bürgerkrieg nach Taiwan übergesiedelt war, habe Elemente der alten chinesischen Philosophie in die Erklärung einfliessen lassen.
«Er wollte das Dokument im Licht von verschiedenen ethischen Traditionen verfassen», um es so universell wie möglich zu machen, so Roth.
Chinas Alternative
«Ich glaube nicht, dass die chinesische Regierung eine klar definierte Alternative zu den Menschenrechten hat», sagt Bequelin. Peking tendiere eher dazu, bestehende Konzepte auszuhöhlen, als konkurrierende vorzuschlagen.
«In Wirklichkeit betrachtet die Kommunistische Partei Chinas die Menschenrechte als etwas, das mit ihrem politischen Modell einer Einheitspartei-Diktatur unvereinbar ist», fügt er hinzu.
Im Menschenrechtsrat war China nicht immer so offen mit seinen Absichten. Bis 2017 hatte das Land noch nie eine eigene Resolution eingebracht, was laut Inboden «eine der wichtigsten Möglichkeiten ist, Ideen, Normen und Menschenrechtsmechanismen zu gestalten».
Seitdem hat es mehrere solcher Resolutionen verabschiedet. «Alle diese Anträge enthalten Ideen, welche die Spezifität, Präzision und Stärke der Menschenrechtsnormen verwässern», sagt Inboden.
Sie enthalten Formulierungen wie «win-win» oder «Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen», die direkt aus dem Parteibuch der Kommunistischen Partei Chinas stammen. «Das wäre so, als hätten die USA unter der Trump-Regierung UNO-Resolutionen mit dem Titel ‹Making America Great Again› einführen wollen», sagt Inboden.
Die grösste Veränderung ist das Selbstverständnis Chinas: Von einem Entwicklungsland im Schatten der USA ist das Reich der Mitte in den letzten drei Jahrzehnten zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen und strebt die geopolitische Macht an, die mit seinem wachsenden wirtschaftlichen Einfluss einhergeht.
Zu dieser Verschiebung beigetragen haben das Vakuum, das entstanden ist durch den Rückzug der USA aus dem Menschenrechtsrat (zwischen 2018 und 2020) unter dem damaligen Präsident Donald Trump, durch Xi Jinpings aggressiven diplomatischen Ansatz und das Aufkommen westlich geführter Initiativen, die sich auf länderspezifische Themen konzentrieren.
Der Griff nach der Macht
Daher reagiert China besonders empfindlich auf Kritik in einem Forum wie dem Menschenrechtsrat, auch wenn dessen Entscheidungen rechtlich nicht bindend sind.
«Ich glaube, es besteht die Sorge, dass das, was in der UNO passiert oder was andere Länder denken, die Legitimität der chinesischen Regierung im eigenen Land in Frage stellen könnte. Sie wird nicht durch Wahlen zur Rechenschaft gezogen. Daher denke ich, dass es immer noch eine gewisse Sorge um die Macht gibt», sagt Inboden.
Die Protestbewegung mit leeren weissen Papierblättern in ganz China, die im November 2022 durch den Tod von mindestens zehn Uigurinnen und Uiguren bei einem Brand ausgelöst wurde, dem sie wegen verriegelten Ausgängen nicht entkommen konnten, war «eine Erinnerung daran, dass die Unzufriedenheit in China unter der Oberfläche brodelt», fügt Inboden hinzu.
Das Gespenst der Proteste und des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tiananmen) von 1989 mag auch noch nachwirken. In der Folge sank Chinas Wachstumsrate, Unternehmen zogen sich aus dem Land zurück, und Peking verlor an Einfluss auf der internationalen Bühne.
«Unter den richtigen Bedingungen kann internationale Kritik den nationalen Interessen eines Landes durchaus schaden, sowohl durch Reputationskosten als auch in Fällen, in denen spezifische Sanktionen verhängt werden», sagt Inboden.
Die Kritik an Chinas Menschenrechtsbilanz auf der internationalen Bühne «verleiht den Bestrebungen [des politischen Widerstands] Legitimität, die ein Teil der chinesischen Bevölkerung hegt», so Bequelin. «Es besteht die Befürchtung, dass die Menschenrechtsstandards auf breite Bevölkerungsschichten im Inland sehr attraktiv wirken.»
Es könnte aber auch einen anderen Grund geben. «China hat grössere Ambitionen in Bezug auf das UNO-System selbst und die Art und Weise, wie internationale Beziehungen geführt werden. Es will eine neue Ära der internationalen Beziehungen in der UNO und darüber hinaus einleiten, um sie in Richtung eines Systems zu drängen, das autoritären Regimen entgegenkommt», sagt Bequelin.
Um erfolgreich zu sein, brauche China die Unterstützung anderer Länder. «Wenn China einen schlechten Ruf hat, wenn ihm Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden, dann behindert das seine langfristige Bestrebungen, die UNO und die internationalen Beziehungen im weiteren Sinn umzugestalten.»
Lesen Sie mehr über den UNO-Bericht über Xinjiang
- Die Vereinten Nationen haben im August 2022 ihren Bericht über die Rechtsverletzungen in der chinesischen Region Xinjiang veröffentlicht. Die Veröffentlichung hatte sich um ein Jahr verzögert. In dieser Zeit war die ehemalige UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet stark unter Druck geraten.
- Bachelet hatte sich lange um einen offiziellen Besuch in China bemüht. Als sie schliesslich im Mai 2022 das Land besuchte, wurde sie heftig kritisiert, da die vereinbarten Bedingungen nie veröffentlicht wurden.
- Im Oktober 2022 lehnte China einen Antrag des Westens auf eine Debatte über den Bericht im Menschenrechtsrat ab. Dieser wichtige diplomatische Erfolg wurde als Ausdruck des wachsenden chinesischen Einflusses in den Vereinten Nationen gewertet.
Mehr als ein Jahr nach der Veröffentlichung des UNO-Berichts zu Xinjiang bleibt die Frage offen, ob dieser in den UNO-Gremien weiterverfolgt wird.
Im Menschenrechtsrat, der derzeit in Genf tagt, scheinen die westlichen Staaten nicht zu einer erneuten Konfrontation bereit zu sein. Sie haben bisher darauf verzichtet, einen Antrag einzubringen, um den Druck auf China zu erhöhen.
Währenddessen hat der Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, nüchtern festgestellt, dass «die Probleme in Xinjiang starke Gegenmassnahmen seitens der Behörden erfordern».
Editiert von Virginie Mangin
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