Wie das Stimmenzählen auch wilde Demokratien zähmt
Fünf lange Wochen benötigten die USA zum Auszählen aller abgegebenen Stimmen. Anderswo geht dies schneller – in der Schweiz beispielsweise werden viele Stimmen erst gar nicht gezählt, sondern gewogen.
So deutlich sich letztlich die Amerikanerinnen und Amerikaner mit der höchsten Stimmbeteiligung in der Geschichte des Landes für einen Wechsel im Weissen Haus ausgesprochen haben, so umkämpft und anspruchsvoll waren diese letzten Wochen für die älteste moderne Demokratie der Welt: «Dieses Jahr war ich so nervös im Vorfeld der Wahlen, dass ich mich als Stimmenzählerin anmeldete», sagt Denise LeGree.
Die 58 Jahre alte Versicherungsmaklerin aus Atlanta gehört zur knappen halben Million WahlarbeitendenExterner Link, die in diesem Jahr zusammen über 30 Milliarden individuelle Stimmen – im Durchschnitt konnte jede US-Bürgerin und -Bürger zwanzig Wahl- und SachentscheideExterner Link fällen – auszählte.
Dabei mussten LeGree und ihre Kollegen die fünf Millionen abgegeben Stimmen im Heimatstaat Georgia nicht nur einmal, sondern gleich vier Mal auszählen. Dies nachdem Anwälte des unterlegenen Kandidaten wiederholt eine Stimmrechtsbeschwerde eingelegt hatten.
Dabei geht es auch anders. Die meisten Staaten der WeltExterner Link halten heute regelmässig Wahlen und AbstimmungenExterner Link ab. Dafür gibt es klare Grundsätze für «freie, faire und demokratische» Wahlen und Abstimmungen – etwa im UN-ZivilpaktExterner Link (Art. 25, 1966) und der EuropakonventionExterner Link (Art. 3 Prot, 1952). Vielerorts können zudem die Ergebnisse schon wenige Stunden nach Schliessen der Urnen bekanntgegeben werden, ohne dass dabei die Auszählsicherheit in Frage gestellt werden muss. Dazu gehören lebendige Demokratien wie Malta, Taiwan und die Schweiz.
Malta: Der Wahltag als Ernstfall für die nationalen Streitkräfte
Im EU-Mitgliedsstaat Malta kommen bei Abstimmungen und Wahlen stets die Streitkräfte des Inselstaates zum (seltenen) Einsatz, in Taiwan wird jede einzelne Stimme öffentlich zitiert und in der Schweiz werden manche Stimmzettel gar nie gezählt – sondern kurzerhand mittels Präzisionsgeräten gewogen.
Verglichen mit den USA unterscheiden sich die drei genannten Länder zwar darin, dass sie flächen- und bevölkerungsmässig viel kleiner sind – aber es gibt auch interessante Gemeinsamkeiten: Wie in den USA so bestimmten auch in Malta und Taiwan lange gewaltbereite Gruppierungen das politische Geschehen. Die Schweiz hingegen ähnelt in ihrem föderalistischen Staatsaufbau stark den Vereinigten Staaten.
«Noch bis vor wenigen Jahrzehnten kam es in Malta bei jeder Wahl zu blutigen Auseinandersetzungen», erinnert sich Arnold Cassola, der als maltesisch-italienischer Doppelbürger in zwei nationalen Parlamenten sass und Malta auch im EU-Parlament vertreten hat: «Heute werden alle Wahlzettel von Militäreskorten an einen zentralen Ort gebracht und dort unter schwerer Bewachung öffentlich ausgezählt». Die Beteiligung bei den letzten Parlamentswahlen betrug 92%.
Taiwan: Schnell, genau und transparent zugleich
Einen solchen Prozess der konsequenten öffentlichen Begleitung des Auszählprozesses kennt auch Taiwan: Im Inselstaat wird jede eingegangene Stimme von einem Wahlhelfer hochgehalten, worauf ein Vertreter der nationalen Wahlkommission zunächst laut und mündlich festhält, für wen oder was diese Stimme gezählt werden soll. In diesem Moment können Beobachter Einwände anbringen, worauf die Stimme mit einem Strich einem Kandidaten, einer Partei oder einer Abstimmungsseite zugeordnet wird.
Trotz dieser transparenten und genauen Auszählung müssen sich die gut 23 Millionen Taiwanesinnen und Taiwanesen kaum je in Geduld üben. Und wenn die Ergebnisse – wie beim kürzlich abgehaltenen Super-Abstimmungstag mit zehn nationalen Vorlagen – nicht gleich schon am Abstimmungsabend veröffentlicht werden können, muss der verantwortliche Wahleiter den Hut nehmenExterner Link.
Schweiz: Vertrauen in Präzisionswaagen
Während sowohl in Malta wie auch in Taiwan zentrale Wahlbehörden für den gesamten Abstimmungsprozess verantwortlich zeichnen, wird diese in der Schweiz ähnlich den USA weitgehend von lokalen Jurisdiktionen wahrgenommen – trotzdem konnte der Informationsdienst der koordinierenden Bundeskanzlei schon am Abend des jüngsten Abstimmungs- und Wahlsonntags vom 29. November über die App mitteilen: «Alle Stimmen sind ausgezählt.»
Ein wichtiger Grund dafür ist die seit 2003 im ganzen Land erlaubteExterner Link Nutzung von Präzisionswaagen. Mit anderen Worten: In der Schweiz werden viele Stimmen gar nicht gezählt, sondern gewogen. «Diese Geräte arbeiten viel genauer als Stimmenzähler*innen», sagt beispielsweise der Gemeindeschreiber von Arth, Roger Andermatt. Als Wahl- und Abstimmungsleiter der Schwyzer Gemeinde muss er es wissen, denn die gut 10´000 Artherinnen und Arther stimmen oft und fleissig ab: seit 2015 über 88 verschiedene Sachgeschäfte und WahlenExterner Link.
Dabei ist die Qualitätssicherung gemäss Bundeskanzlei (der föderalen Wahlbehörde der Schweiz) folgendermassen gewährleistet: «Präzisionswaagen, welche für die Stimmenzählung verwendet werden, müssen entsprechend dem Bundesgesetz über das Messwesen und der Eichverordnung vom Bundesamt für Metrologie und Akkreditierung geprüft und zugelassen werden. Zuständig für die Kontrolle und Eichung der Messmittel sind die kantonalen Eichämter.»
Und noch etwas trägt zur schnellen Bekanntgabe von Abstimmungsresultaten in der Schweiz bei: «Es gibt in der Schweiz zu viele Abstimmungen und zu viele inhaltliche Auseinandersetzungen, um nachtragend zu sein», erklärte die Justizministerin des Landes, Karin Keller-Sutter, am 29. November nach Bekanntgabe des äusserst knappen Ergebnisses zur hart umkämpften Konzernverantwortungsinitiative.
Obwohl letztlich nur gerade 6000 Stimmen den Ausschlag gaben, wurde keine Neuauszählung verlangt, wie sie in den USA zum Alltagsgeschäft gehören.
Die USA ist eine «wilde Demokratie»
In Amerika herrscht Nervosität und Hektik, wenn Menschen zu den Wahl- und Abstimmungsurnen gerufen werden. Milliarden werden in Kampagnen und Gerichtsprozesse gesteckt.
Für den Historiker Tracy Campbell kommt dies nicht von ungefähr: «Zu unserer Geschichte gehören eben auch Dinge wie Stimmenkauf, das Zerstören von Wahlurnen, die Verfälschung von Wahllokalen, das Einschleusen illegaler Wähler sowie die Entrechtung und Unterdrückung von Wählern», betont Campbell, der an der Universität von Kentucky in Lexington lehrt.
Hinzu kommt, dass das US-amerikanische Wahlsystem aus über zehntausend weitgehend unabhängigen Rechtseinheiten besteht. Diese filigrane Machtteilung macht zwar einen US-weiten organisierten Wahlbetrug – wie von Trump wiederholt behauptet – fast unmöglich, erschwert aber auch die Überwindung lokaler Defizite im Wahlprozess, etwa bei der Diskriminierung bestimmter Wählergruppen.
Hinzu kommt das amerikanische Selbstverständnis – wie es der Soziologe Charles Tilly nach der umstrittenen Florida-Wahl im Jahre 2000 (als am Ende das Oberste Gericht dem Republikaner George W. Bush die Präsidentschaft trotz verlorener Volkswahl zuordnete) formuliert hatte – einer «wilden und unordentlichen Demokratie». Die Amerikanerinnen und Amerikaner zögen so Tilly «den mit allen Mitteln geführten Machtkampf» einer «gewaltlosen Tyrannei» vor.
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