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Wie die Schweiz Demokratien weltweit den Konsens schmackhaft macht

Grosses Wahlplakat hoch über einer Schnellstrasse in Nigerias Hauptstadt Lagos
Für die Wahlen vom 25. Februar im konfliktgeplagten Nigeria hat die Schweiz mit den Parteien und der Wahlbehörde eine Code of Conduct aufgestellt. Keystone / Akintunde Akinleye

Lange Debatten, am Schluss ein Kompromiss: Schweizer Politik hat den Ruf, langweilig zu sein. Aber genau darin sehen internationale Expert:innen eine Qualität der Schweizer Demokratie: Sie produziert meist unspektakuläre, aber tragfähige Lösungen. Dieses Knowhow möchte die Schweiz vermehrt mit anderen Demokratien teilen.

Coronapandemie, Putins Krieg gegen die Ukraine, Energie- und Nahrungsmittelverknappung, Inflation, politische Polarisierung: Demokratien stehen aktuell unter starkem Druck.

Wie also lassen sich die inneren Abwehrkräfte der Demokratien stärken, damit sie bestehen?

Der britische Politikwissenschaftler Matt Qvortrup, Professor an der Universität Coventry, hat eine überraschende Antwort parat: «Im angelsächsischen Raum unterscheiden wir zwischen ‹Politics› und ‹Policy›. Erstere ist die Polarisierung ‹ich gegen die anderen›, letztere die Debatte, um ein Problem zu lösen,» so Qvortrup gegenüber swissinfo.ch.

«Statt auf ‹Politics› zu fokussieren, also auf Personen und Parteien, sollte die ‹Policy› im Vordergrund stehen. Es geht nicht darum, Debatten zu gewinnen, sondern darum, in der Debatte die beste Lösung für ein Problem zu finden – das ist die eigentliche Grundidee der Demokratie.»

Kompromiss als Wesenskern

In der Debatte die möglichst gute und breit abgestützte Lösung für ein Sachproblem zu finden: Damit trifft Qvortrup den Wesenskern der Schweizer Demokratie: den Kompromiss.

In der Schweiz ist der Kompromiss meist ein Synonym für eine Lösung, erzielt im Schneckentempo und ohne Mut und Visionen. Der Kompromiss verströmt keine prickelnde Gänsehaut, sondern Langeweile.

Langeweile als Qualitätslabel

Parag Khanna, renommierter Analyst der geopolitischen Umwälzungen aus Singapur, sieht das ganz anders. Der Politikwissenschaftler hält genau diese «Langeweile» für eine herausragende und vorbildliche Qualität der Schweiz.

«‹Langweilig sein› führt zu einer besseren Politik, als wenn es immer dramatisch zu- und hergeht. Die Schweiz ist, wie auch Singapur, politisch sehr langweilig, aber genau das finde ich sehr gut,» sagte Kanna in einem früheren Videointerview mit swissinfo.ch.

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Im Ringen, ein neues Gesetz zu formen, fliegen im Schweizer Parlament durchaus mal die Fetzen. Aber starres Verharren auf der eigenen Position bringt dort selten den Durchbruch.

Allianzen schmieden, selbst mit Gegnern

Die Erfolgsformel besteht vielmehr im geschmeidigen Verhandeln um inhaltliche Positionen und Allianzen mit anderen Parteien – gerade auch solchen aus dem gegnerischen Lager. Es ist dies ein Mechanismus von überraschender Effektivität, der im politischen Prozess gar im Stande ist, die realen Kräfteverhältnisse in der Parteienlandschaft auf den Kopf zu stellen.

In der Summe aller Abstimmungen, die 2022 im Parlament stattfanden, hat die grösste Partei des Landes am meisten Abstimmungen verloren. Es ist dies die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), die einen Wähler:innenanteil von 25,6% und 59 von 246 Sitzen unter der Bundeshauskuppel hält – sie gewann 51% der Abstimmungen respektive 52% der Urnengänge auf nationaler Ebene.

Am meisten Siege im Parlament errang die Partei mit dem programmatisch-treffenden Namen Die Mitte. Mit einem Wähler:innenanteil von gerade mal 11,4% und 38 Parlamentssitzen ist sie mit 88% gewonnener Abstimmungen die ungekrönte Königsmacherin der Schweizer Politik.

Bei den nationalen Abstimmungen hat die Grünliberale Partei die Nase vorn – die GLP gewann 69% der Abstimmungen. Die Zahlen basieren in einer Auswertung der «Sonntagszeitung»Externer Link.

Wechselnde Mehrheiten systemrelevant

Wechselnde Mehrheiten sind auch ein zentraler Faktor für die Lernfähigkeit, die Demokratien im Gegensatz zu Autokratien oder Diktaturen zugeschrieben wird.

Zugespitzt könnte man sagen: In der Demokratie Schweiz sind wechselnde Minderheiten die solide Basis für stabile Mehrheitsentscheide.

Und: Die Demokratie in der Schweiz ist ein politisches Konkurrenzsystem, das mit Mechanismen abgesichert ist, die für Zusammenhalt, Solidarität und Ausgleich und somit einen guten Boden für das Zustandekommen politischer Kompromisse bilden.

In der kleinen und sehr heterogenen Schweiz sind einvernehmliche Verfahren für politische Lösungen pure Überlebensnotwendigkeit. Sie verhindern, dass sich Zentrifugalkräfte entwickeln, die den Zusammenhalt des Land gefährden könnten.

  • Starke direkte Demokratie dank den Volksrechten Gesetzesreferendum (1874) und Volksinitiative (1892). Sie wirken als Gegengewicht und Korrektiv zu den drei Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative.
  • Föderalismus mit starker Autonomie der Kantone (und Gemeinden) als Gegengewichte zur zentralen Macht des Bundesstaats; starker Einfluss der Kantone auch durch den Ständerat, die kleine Kammer des Schweizer Parlaments.
  • Frühe Einbindung der Opposition in fast alle Projekte und politische Lösungen – via Volksrechte und der vorgängigen Anhörung aller wichtiger Akteur:innen wie Parteien, Verbände, NGO, Kantone, Städte und Vereinigungen.
  • Fairnessprinzip gegenüber Verlierer:innen. Es ist Teil der politischen Kultur, dass Parlament und Regierung nach gewonnenen Abstimmungen die Vorbehalte und Zweifel der unterlegenen Minderheit mitberücksichtigen.
  • Kohäsion der wirtschaftlich unterschiedlichen Regionen durch einen nationalen Finanzausgleich.
  • Breite Abstützung und Legitimierung der politischen Entscheide von Parlament und Regierung bei den Bürger:innen. Beispiel: Die zwei Ja der Stimmenden an der Urne über die revidierten Covidgesetze mit den behördlichen Massnahmen gegen die Pandemie.
  • Die sieben Mitglieder der Schweizer Regierung sind verfassungsmässig ans sogenannte Kollegialitätsprinzip gebunden: Die Regierung muss gegen aussen als Einheit auftreten.

Auch für Audrey Tang, die Digitalministerin Taiwans und eine innovative Treiberin der Demokratieentwicklung, besitzt die Konkordanzdemokratie Schweiz Modellcharakter. Besonders beeindruckt zeigt sie sich von der «hohen Qualität der politischen Debatten» in der Schweiz, etwa in der Frage der Anwendung von E-Voting.

EDA tritt aus der Deckung

Aussagen wie jene von Qvortrup, Khanna und Tang dürften den Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis in seiner Haltung bestärken. Angesichts des Kriegs in Europa und der Angriffe auf demokratische Institutionen und liberale Freiheiten rund um die Welt will Cassis die Demokratieförderung auf internationalem Parkett verstärken. Dieses Ziel soll auch in der Aussenpolitischen Strategie 2024 bis 2027 verankert werden, wie Cassis unlängst beteuerte.

Demokratieförderung ist in der Schweiz Verfassungs- und Gesetzesauftrag. Mit der Umsetzung ist Botschafter Simon Geissbühler betraut, der Leiter der Abteilung Frieden und Menschenrechte im schweizerischen Aussenministerium (EDA).

«Die Demokratie Schweiz verfügt über eine hohe Glaubwürdigkeit und viel Expertise, die wir auf internationaler Ebene proaktiv, sichtbar und prominent einbringen können», sagt Geissbühler.

Die Schweiz sei zwar ein «Demokratie-Sonderfall», der sich so nicht auf andere Länder übertragen lasse. «Aber wir sind ein Modell, aus dem andere Länder durchaus Lehren ziehen können,» sagt er.

Mit ihrer Expertise gehe die Schweiz aber nicht in der Welt hausieren, stellt er klar. Ein Austausch geschehe nur, wenn Partnerländer dies wünschten.

An Leuchttürmen bauen

Nachfrage dafür besteht. Als Premiere lud Geissbühler im vergangenen April zu einem «Mini-Demokratiegipfel» mit acht Ländern. Neben den USA, Südkorea und Schweden waren auch weniger bekannte Demokratien wie Ghana, Botswana und Costa Rica dabei. Ein zweiter solcher «Mini-Gipfel» ist für Mitte März dieses Jahres geplant.

«Botswana hat ein gutes Demokratie-Ranking und ist interessiert an einem Austausch. Dadurch wird es gestärkt als ein Beispiel von guter Demokratie in Afrika, das auf andere Länder abstrahlt», sagt Geissbühler.

Neben der Ausrichtung von freien und fairen Wahlen zählen als Qualitätskriterien auch partizipative Beteiligung der Menschen, insbesondere auf lokaler Ebene, gute Regierungsführung und Kampf gegen Korruption oder die Unabhängigkeit der Justiz.

Dass es Bern ernst ist mit dem neuen Fokus, unterstreicht der Besuch von Bundespräsident Alain Berset von Anfang Februar in BotswanaExterner Link. «Das ist ein wichtiges Signal,» sagt Geissbühler.

Gleiches gilt für Nigeria. Für die Wahlen vom 25. Februar im bevölkerungsreichsten Land Afrikas hat das EDA zusammen mit der nigerianischen Wahlbehörde einen Verhaltenskodex erarbeitet. Dieser sollte die beiden Parteien und die Kandidat:innen zu einem transparenten, fairen und friedlichen Wahlkampf verpflichten.

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«Freie, faire und friedliche Wahlen in Nigeria wären ebenfalls ein wichtiges Zeichen an andere Länder auf dem Kontinent, dass solche Ziele erreichbar sind und es sich auch für sie lohnt, ihre Demokratien zu erhalten und zu stärken», sagt Geissbühler.

Anerkennung

Die neue, aktivere Rolle der Schweiz für einen direkten Austausch von Schweizer Demokratie-Knowhow mit Partnern sei international bereits auf positives Echo gestossen.

«Verschiedene Länder haben den Wunsch geäussert, dass die Schweiz ihre Demokratie-Erfahrung aktiver kommunizieren soll.»

«Innenpolitik ist Aussenpolitik»

Ein Nebeneffekt der neu fokussierten Demokratieförderung ist die Verbindung von Innen- und Aussenpolitik. «Innenpolitik ist Aussenpolitik», lautet ein Grundsatz von Departementschef Cassis.

Geissbühler dazu: «Wenn sich die Schweiz angesichts der Krisen international stärker als demokratisch verfasstes Land positioniert, kann sie die Kohärenz zwischen Innen- und Aussenpolitik sicherstellen.»

«Kein Missionieren»

Genau darin liegt aber auch das Risiko, dass die Widersprüche in der Haltung der demokratischen Schweiz gegenüber Autokraten, Despoten und Kriegstreibern, die mit dem Krieg in Europa klar an den Tag getreten sind, noch grösser werden.

Geissbühler relativiert: «Demokratieförderung, wie sie die Verfassung von uns verlangt, ist nicht gegen jemanden gerichtet. Wir missionieren nicht. Wir reden und arbeiten selbstverständlich weiter mit allen zusammen, unabhängig vom Regimetyp.»

Die sei bei der Menschenrechtspolitik der Schweiz nicht anders. «Aber wir wollen ein Zeichen für die Demokratie setzen und, falls gewünscht, Demokratien stärken helfen.»

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