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Wie die Schweiz Menschen mit Sehbehinderung das Abstimmen schwer macht

Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Blindenhunden am Tag des Weissen Stocks.
Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Blindenhunden am "Tag des Weissen Stocks", auf dem Bundesplatz in Bern, 2016. Keystone / Peter Schneider

Die Schweizer Demokratie tut sich immer noch schwer mit der Inklusion marginalisierter Gruppen. Menschen mit Sehbehinderung dürfen zwar abstimmen, sind dabei aber auf Unterstützung angewiesen. Das ritzt das Stimmgeheimnis. Andere Länder kennen Lösungsansätze.

Regula Schütz sitzt an ihrem Computer und liest Zeitung. Oder besser: Sie hört Zeitung, und zwar in atemberaubendem Tempo. «Für mich ist das eher langsam», schmunzelt Schütz, sie hat die Geschwindigkeit für den Journalisten extra etwas heruntergeschraubt. 

Schütz ist blind. Gerade hört sie sich die Informationen zu der bevorstehenden Abstimmung an. 

Während sie sich bequem über die Abstimmungen informieren kann, die viermal jährlich stattfinden, ist das Abstimmen selbst schwieriger. Die Formulare sind in der Schweiz so gestaltet, dass sie von Blinden Menschen nicht selbstständig ausgefüllt werden können. 

Das Stimm- und Wahlgeheimnis kann damit nicht sichergestellt werden, obwohl das Gesetz und die von der Schweiz unterschriebenen UNO-Behindertenrechtskonvention eigentlich fordern. Rund eine Viertelmillion Menschen in der Schweiz sind potentiell betroffen, schätzt der Schweizer Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND). 

Darauf angesprochen, verweist die Bundeskanzlei darauf, dass das Gesetz ausdrücklich erlaubt, Hilfe durch Drittpersonen in Anspruch zu nehmen, wenn man die Stimmabgabe nicht selbst vornehmen kann.  

Menschen mit einer kognitiven Behinderung ergeht es noch ärger: Sie dürfen in der Schweiz gar nicht abstimmen und wählen. Die Schweiz wird von der UNO deshalb regelmässig gerügt. Genf hat das vor einem Jahr als erster Kanton geändert:

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Doch gerade, dass sie nicht selbstständig abstimmen kann, empfindet Schütz als diskriminierend. Dies obwohl sie keine Schwierigkeiten hat, Personen in ihrem Umfeld zu finden, die ihr helfen und denen sie vertraut.

Solche Personen haben nicht alle. Gianfranco Giudice, ebenfalls blind, sagt: «Es ist ein grosses Problem, eine Person zu finden, der ich vertraue, dass sie das Kreuzchen an der richtigen Stelle setzt.»

«Es kam vor, dass ich nicht an Abstimmungen teilnehmen konnte, weil ich keine Person fand, die mir helfen konnte.» Er macht auf einen weiteren Punkt aufmerksam: «Es kann auch sein, dass die assistierende Person formale Fehler macht, die dazu führen, dass die Stimme ungültig ist. Ich kann das nicht kontrollieren.»

Diese Bedenken teilt Schütz: «Es kann immer ein Fehler passieren. Ich ärgere mich bereits, wenn jemand beim Einkaufen für mich die falsche Milch oder die falsche Butter erwischt. Bei Abstimmungen ist so ein Fehler noch gravierender.»

Sehen Sie im Video, was sich Schütz und Giudice von der Politik wünschen:

Das Problem gibt es nicht nur in der Schweiz

Jedes Land, das Abstimmungen oder Wahlen kennt, muss sich fragen, wie es die Hürden für die politische Teilhabe für Menschen mit einer Behinderung beseitigt. Einige haben bereits Lösungsansätze gefunden.

«In Schweden können Menschen mit Sehbehinderungen unter Einhaltung des Wahlgeheimnisses Parteien wählen», erklärt Henrik Götesson vom Schwedischen Verband der Sehbehinderten gegenüber SWI swissinfo.ch. «Man kann die Wahlzettel in speziellen Umschlägen in der Blindenschrift Braille bestellen.» Allerdings können Blinde die Wahllisten nicht wie alle anderen ohne Hilfe anpassen und etwa spezifische Kandidierende wählen.

Um das zu ermöglichen, setzt sich Götesson für den Einsatz von Schablonen ein, die über die Wahlunterlagen gelegt werden und anzeigen, wo Markierungen gesetzt werden müssen. Solche Schablonen gibt es in einigen Ländern schon länger, so etwa in Deutschland, Österreich, Südafrika oder Kanada.

Der SZBLIND will das für die Schweiz adaptieren – zumindest für nationale Abstimmungen. Der Blindenverein hat eine Schablone entwickelt, mit der Menschen mit Sehbehinderung unter Gewährung des Stimmgeheimnisses abstimmen können. Er ist mit den Behörden und der Politik im Gespräch, um eine schweizweite Einführung zu besprechen.

Visualisierung der vom SZB geplanten Schablone.
So soll die Abstimmungsschablone aussehen, die der SZBLIND plant. ZVG / SZB

Doch das ist kompliziert: «Die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen ist Sache der Kantone. Sie erstellen zum Teil auch für nationale Abstimmungen eigene Stimmzettel, die zu ihren Auszählungsverfahren passen», teilt die Bundeskanzlei per Mail mit. Sprich: Die Schweiz müsste zuerst die Abstimmungsbögen national vereinheitlichen. Der Bund wäre dabei auf die Kooperation der Kantone angewiesen.

Was halten die Betroffenen von dieser Lösung? «Die Schablonen helfen mir höchstens beim Abstimmen. Wahlen sind dafür zu kompliziert», sagt Schütz. In den Parlamentswahlen in der Schweiz hat man grosse Freiheiten: Stimmbürger:innen können Parteilisten unverändert einwerfen, doch es können auch Reihenfolgen geändert, Kandidierende doppelt aufgeführt oder gestrichen werden oder Kandidierende verschiedener Parteien in einer Liste zusammengeführt werden (Panaschieren).

«Als Schnelllösung ist das besser als nichts. Aber ich bin damit weiterhin auf Unterstützung angewiesen» sagt Giudice.

Betroffene wünschen sich E-Voting

Für Giudice wäre E-Voting die beste Lösung: «Es könnte allen offen stehen, auch Menschen ohne Behinderung. So wäre es keine Speziallösung für Blinde.» Auch Schütz versteht nicht, weshalb das nicht möglich sein sollte.

«E-Voting würde eine gesamtheitliche Lösung bieten, sowohl für Abstimmungen wie auch für Wahlen», stimmt Martin Abele vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) zu. «Vorausgesetzt, die Barrierefreiheit wird sichergestellt, ist E-Voting das Mass der Dinge.»

2019 hatte der Bundesrat entschieden, dass E-Voting vorläufig nicht als ordentlicher Stimmkanal eingeführt wird – wegen Sicherheitsbedenken. Giudice hält dagegen: «Man spricht immer von Sicherheit und Datenschutz, aber das ist absurd und widersprüchlich. Denn mit brieflichem Abstimmen sind Sicherheit und Wahlgeheimnis für Menschen mit Sehbehinderung gerade nicht gewährleistet.»

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Bisher bleiben die meisten Länder zögerlich, wenn es um das Thema E-Voting geht. «Für uns mit Sehbehinderung wäre E-Voting eine gute Lösung, aber wegen Sicherheitsbedenken ist es politisch nicht realistisch», sagt auch Götesson in Schweden. «Ich habe bis jetzt leider nirgends ein perfektes Wahlsystem für Menschen mit Sehbehinderung gesehen.»

Immerhin: Die Bundeskanzlei der Schweiz anerkennt das Problem. «E-Voting erhöht die Autonomie von sehbehinderten Menschen bei der Stimmabgabe» heisst es auf Anfrage. Testprojekte mit E-Voting sollen in den Kantonen bald wieder möglich sein.

Gesellschaftliches Bewusstsein ist nötig

Das Problem für Menschen mit einer Behinderung geht tiefer: «Ich fühle mich von niemandem vertreten in der Politik», sagt Giudice.

«Die Inklusion fehlt nicht nur in den Abstimmungen. Menschen mit Behinderungen sind in der gesamten Politik untervertreten» sagt Chris Heer der Organisation von Menschen mit Behinderungen Agile.ch. «Es sollte normal sein, dass Menschen mit Behinderung dazugehören.»

Dazu gehört laut Heer ein ganzer Katalog von Massnahmen, der in der Schweizer noch zu verwirklichen wäre: Dass Parteien auf Barrierefreiheit achten, mit Webseiten, die auch für Menschen mit Sehbehinderung zugänglich sind, Gebärdensprachdolmetscher an Anlässen für Menschen mit Hörbehinderung oder Rampen statt Treppen für Personen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind.

Bemühungen, die Inklusion von Menschen mit einer Behinderung zu ermöglichen, werde häufig als eine Art soziale Wohlfahrt verstanden, so Heer. Dabei gehe unter, um was es eigentlich gehe: Liberale Menschenrechte.

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