Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Wie ein Schweizer Generalmajor den «Frieden» im Nahen Osten überwacht

UNTSO military observers in the Middle East
UNTSO ist die älteste friedenserhaltende Operation der UN. Sie wurde 1949 nach dem arabisch-israelischen Krieg gegründet und überwacht noch immer die Waffenstillstandslinien im Nahen Osten. Keystone / Samer Wehbi

Der Divisionär Patrick Gauchat steht seit kurzem der ältesten Friedensmission der Vereinten Nationen vor, der UN-Friedensmission zur Überwachung des Waffenstillstands im Nahen Osten (UNTSO). Für diese Aufgabe brauche es militärisches und diplomatisches Geschick, erklärt der Schweizer Armeegeneral in einem Exklusivinterview gegenüber SWI swissinfo.ch.

UNTSOExterner Link ist die älteste UNO-Friedensmission. Gleichwohl ist sie nicht sehr bekannt. Um ihre Aufgaben zu verstehen, müsse man ins Jahr 1949 zurückgehen, sagt der neue Missionsleiter Patrick Gauchat. Die Einheit wurde nach dem arabisch-israelischen Krieg von 1948 gegründet, als die Vereinten Nationen einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien verkündeten. Die UNO entsandte Militärbeobachter:innen in die Region, um die Waffenstillstandsvereinbarungen zwischen Israel und seinen Nachbarn zu überwachen.

Das Mandat der Mission hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt. Die UNTSO ist mittlerweile in die Beobachtermissionen auf den Golanhöhen sowie im Libanon integriert.

Welche Aufgabe hat die UNTSO heute? «Wir überwachen die Waffenstillstandslinien, berichten über allfällige Verletzungen dieser Grenzen, ausserdem führen wir Inspektionen durch, um die Anzahl der Truppen, Kampfpanzer, Artillerie sowie die Präsenz bestimmter Waffentypen zu ermitteln», so Gauchet in einem Gespräch mit swissinfo.ch aus Jerusalem. Zudem wirke die Einheit als Vermittlerin zwischen den verfeindeten Parteien. Was braucht es für diesen Job? «Man muss ein diplomatischer Militärangehöriger oder ein militärischer Diplomat sein», sagt Gauchet.

Mehr

Gut 50 Todesopfer zu beklagen

Die UNTSO besteht momentan aus 153 unbewaffneten Militärbeobachter:innen und über 200 zivilen Angestellten. Die Organisation hat ihren Hauptsitz in Jerusalem und verfügt über Büros in den Hauptstädten von Libanon, Ägypten, Syrien und Jordanien.

Der Einsatz ist mit Gefahren verbunden. «Die Militärbeobachter:innen sind natürlich in Gefahr. Wenn wir die wichtigsten Kriege nach 1948 im Nahen Osten betrachten – 1967, 1973, 1982, 2006 –, haben wir in jedem dieser Kriege Militärbeobachter:innen verloren, das heisst Personen, die einfach nur ihre Arbeit gemacht haben.» Insgesamt 52 Todesopfer gab es im Laufe der Jahre zu beklagen.

Erfahrung sei in diesem Job hilfreich, fügt Gauchat an. Er war zuvor bereits als Militärbeobachter in der UNTSO tätig und von 2011 bis 2013 stellvertretender Stabschef. Er war auch an friedenserhaltenden Missionen im Kosovo und zuletzt in der entmilitarisierten Zone an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea im Einsatz. «Wenn man im Laufe seiner beruflichen Einsätze mit verschiedenen gefährlichen und politisch sensiblen Situationen konfrontiert wird, entwickelt man Ansätze, um spannungsreiche Situationen zu entschärfen. Bei diesen Methoden braucht es Erfahrung, aber auch Kreativität», sagt er gegenüber swissinfo.ch.

Gauchat
Gauchat auf friedenserhaltener Mission im Kosovo, 2014. Keystone / Jean-christophe Bott

Die unbewaffneten UNTSO-Militärbeobachter:innen arbeiten im Rahmen eines UN-Mandats nach dem so genannten Kapitel VI der Charta der Vereinten Nationen («Die friedliche Beilegung von Streitigkeiten») mit Zustimmung der gegnerischen Parteien. Dies ist nicht bei allen UN-Friedenstruppen der Fall, denn einige dieser Verbände sind bewaffnet. In der Demokratischen Republik Kongo beispielsweise sind sie im Rahmen eines so Mandats nach Kapitel VII («Regionale Abmachungen») tätig und dürfen «alle erforderlichen Massnahmen» ergreifen, um Zivilist:innen zu schützen, die von bewaffneten Gruppen angegriffen werden.

Schweizer Neutralität

Ist es nützlich, als Chef der Friedensmission ein Schweizer zu sein? «Seit ich hier vor Ort das Kommando übernommen habe (9. Dezember), war die Neutralität oder eine neutrale Berichterstattung der Militärbeobachter:innen immer wieder ein Thema. Wenn der Missionschef aus der Schweiz stammt, bedeutet das folglich eine Art Sicherheit für die Parteien, dass Neutralität bereits vom Missionschef verstanden wird», antwortet Gauchat.  Und fügt an: «Der Vorteil der Schweiz im Rahmen friedenserhaltender Massnahmen ist, dass es sich um ein Land handelt, das keine koloniale Vergangenheit und keine grossen nationalen Interessen verfolgt, im Unterschied zu einigen anderen Ländern.»

Welche Eigenschaften sind nötig, um eine Friedensmission dieser Art führen zu können?  Gauchat meint, dass neben militärischen und diplomatischen Fähigkeiten auch «Geduld und Verständnis» nötig seien.  «Es ist wichtig, sich Kenntnisse über die Kultur, Geschichte und die allgemeine Situation der Region anzueignen, um besser zu verstehen, wie die Menschen denken und welche Sorgen sie haben», fährt er fort. Von Vorteil sei auch sein multinationales und multikulturelles Team. «Wenn wir eine UN-Mission ausführen, die mit verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen zu tun hat, ist das sicherlich gut, weil wir diese Vielfalt respektieren, intern und extern.»

Mehr
Newsletters SWI swissinfo.ch

Mehr

Newsletter

Melden Sie sich für unsere Newsletter an und Sie erhalten die Top-Geschichten von swissinfo.ch direkt in Ihre Mailbox.

Mehr Newsletter

Evaluierung von UN-Friedensmissionen

Seit der Gründung der UNTSO im Jahr 1949 haben die Vereinten Nationen zahlreiche friedenserhaltende MissionenExterner Link in der ganzen Welt durchgeführt – im Moment gibt es 12 dieser Missionen. Gelegentlich wurden diese Einsätze auch kritisiert. Den grössten Misserfolg gab es mit Sicherheit 1994 in Ruanda, als die UNO die Friedenstruppen abzog, anstatt ihr Mandat zu erweitern, um den Völkermord zu stoppen. Der verstorbene UN-Generalsekretär Kofi Annan (1938-2018), einst Leiter der Abteilung für die UN-Friedenstruppen in New York, empfand später «bitteres Bedauern und anhaltende Trauer» über die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf den Völkermord in Ruanda.

Gauchat zeigt sich überzeugt, dass die UNO aus dem damaligen Desaster ihre Lehren gezogen hat. Er ist zudem der Meinung, dass der Wert einer friedenserhaltenden Mission nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich ist. Der Verzicht auf Kampfhandlungen sei nicht nur für die Bevölkerung vor Ort lebenswichtig, sondern auch ein Schlüsselelement, um einen Weg für eine politische Lösung eines Konflikts zu finden. Anders gesagt: «Wir sollten nicht als diejenigen angesehen werden, die den Frieden schaffen, aber wir schaffen einige Bedingungen, die dem Frieden förderlich sind.»

Auf die Frage, warum es nach all den Jahren keinen dauerhaften Frieden im Nahen Osten gibt, zieht er es vor, die positive Seite zu sehen und verweist auf die Tatsache, dass die Waffenstillstände von 1948 später in Friedensverträge zwischen Israel und zwei seiner Nachbarn, Jordanien und Ägypten, umgewandelt wurden. Er räumt jedoch ein, dass der anhaltende israelisch-palästinensische Konflikt «eines der zentralen Themen für die Lösung aller Konflikte im Nahen Osten ist.»

Covid als Herausforderung

Gauchat sieht die momentan grösste Herausforderung für die Friedenssicherung in der Covid-19-Pandemie. Denn die politischen Friedensbemühungen im Nahen Osten und an anderen Orten seien «verwässert» worden, da die ganze Welt mit der Bekämpfung der Pandemie beschäftigt sei. Das bedeutet: Während die militärischen Einheiten der Friedensmissionen ihre Arbeit vor Ort fortsetzen, wird viel weniger Energie darauf verwendet, dauerhafte politische Lösungen für Konflikte zu finden.

Und wie erlebt Gauchat seine Aufgaben in den Friedensmissionen persönlich? Der Entscheid, dem UN-Friedenssicherungssystem beizutreten, sei die grösste Herausforderung seines Lebens gewesen, meint er. Denn er habe ein recht komfortables Leben in der Schweiz aufgegeben: «Man lässt sein Netzwerk und seine Freunde zurück, und das ist schwer, vor allem wenn man dann noch alle ein bis drei Jahre das Einsatzland wechselt.»

Und wie geht er mit dieser Schwierigkeit um? «Von klein auf bin ich gerne gereist, um andere Sprachen, Kulturen und Landschaften sowie Geografie und Geschichte zu entdecken. Ich glaube, dank dieser Neugierde hat sich ein ‹Durst nach neuen Gesellschaften› eingestellt», antwortet Gauchat. «Ich glaube, dass man mit diesem Leben ganz gut zurechtkommt, wenn man die persönlichen Fähigkeit hat, neue Menschen kennenzulernen und sich auf Neues einzulassen.»

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft