Wie Mexiko ein Schweizer Demokratie-Werkzeug benutzt
Am 10. April sind mehr als 90 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner dazu aufgerufen, ihren Präsidenten abzuwählen. Das Verfahren, das es den Wahlberechtigten ermöglicht, eine gewählte Amtsperson abzuwählen, wurde Mitte der 1850er-Jahre in der Schweiz erfunden. Während es hierzulande nur ein einziges Mal und nur in einem Kanton angewandt wurde, werden Abwahlen in der ganzen Welt immer häufiger. Aus guten und manchmal auch aus weniger guten Gründen.
Der bevorstehende mexikanische «Recall» am 10. April wird über das Schicksal des amtierenden Präsidenten Andrés Manuel Lopéz Obrador entscheiden. Der 69-jährige Staatschef hat die Abstimmung über den Widerruf des Mandats selbst über eine Nichtregierungs-Organisation initiiert und setzt darauf, dass ein deutlicher Sieg in der Bevölkerung die letzten beiden Jahre seiner sechsjährigen Amtszeit beleben würde.
Das Abwahl-Verfahren – kurz «Recall» – ist ein Instrument der direkten Demokratie, das es einer bestimmten Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern – in Mexiko mindestens 3% der Wahlberechtigten – ermöglicht, eine landesweite Abstimmung über die Beendigung oder Fortsetzung des Mandats einer gewählten Amtsperson einzuleiten, beispielsweise der Präsidentin oder des Präsidenten.
Der Recall ähnelt einem Amtsenthebungs-Verfahren – eine Amtsperson wird von einer Behörde «abberufen», allerdings mit dem zusätzlichen Schritt einer Volksabstimmung. So wurde beispielsweise die Abwahl des rumänischen Präsidenten Traian Băsescu von den Wahlberechtigten in einer Volksabstimmung am 29. Juli 2012 gebilligt.
Die Abwahl erfolgt grundsätzlich von unten nach oben, während die Amtsenthebung von oben nach unten erfolgt. Im aktuellen mexikanischen Fall handelt es sich jedoch um eine Mischung aus beiden Verfahren, da der Präsident selbst die Abwahl eingeleitet hat.
Abwahlen und Amtsenthebungen dürfen jedoch nicht mit der Absetzung einer Richterin oder eines Richters verwechselt werden. Bei den erstgenannten Instrumenten handelt es sich um politische Entscheide des Volks oder seiner Vertretenden, bei der Absetzung hingegen um rechtliche Entscheide von Parlamenten und Gerichten. Letztere richten sich gegen Personen, die Rechtsschutz geniessen.
Die Kampagne brachte mehr als die drei Prozent der Wahlberechtigten – 2,75 Millionen Unterschriften – zusammen, die erforderlich sind, um einen solchen Wahlgang für gültig zu erklären.
Gabriela Jiménez GodoyExterner Link, eine der Initiatorinnen der Abwahl-Kampagne und aktives Mitglied der Regierungspartei Morena, bezeichnet die Aktion als «eine Form der Stärkung der Demokratie». Die mexikanische Tiktok-Influencerin Patty MirandaExterner Link empfiehlt eine Ja-Stimme, damit «Andrés Manuel weiter für Mexiko arbeiten kann».
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«Recht auf Abwahl ist ein Sicherheitsventil der Demokratie»
Unterdessen appellierten alle grossen Oppositionsparteien, darunter die PRD, die PAN und die PRI, an die mexikanische Bevölkerung, sich nicht an dem zu beteiligen, was sie eine «plebiszitäre Übung» nennen. «Es ist einfach eine Verschwendung von Zeit und Geld», sagen sie.
Dies wird die erste landesweite Recall-Wahl in Mexiko sein. Sie folgt auf die ersten Erfahrungen mit einem Referendum im August 2021 über ein neues Gesetz, mit dem der ehemalige Präsident wegen Korruption bestraft werden sollte.
Dieses wurde ebenfalls vom jetzigen Präsidenten initiiert und endete mit der Ungültigerklärung des gesamten Prozesses wegen geringer Beteiligung: nur 7% der Stimmberechtigten nahmen teil, anstatt der erforderlichen 40%.
Der Abwahl in diesem Monat droht das gleiche Schicksal. Diese beiden Vorstösse zeigen, wie schwierig und problematisch es ist, die direkte Demokratie von oben her einzuführen.
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Mexikos erstes Referendum: für Demokratie oder Populismus?
Im Trend
Die aktuelle Recall-Wahl in Mexiko ist Teil eines weltweiten Trends, bei dem dieses Verfahren genutzt wird, um Präsidenten (Hugo Chávez in Venezuela, Trian Basescu in Rumänien), Bürgermeisterinnen (Susana Villarán in Lima, Hanna Gronkiewicz-Waltz in Warschau) oder Gouverneure (Gray Davis in Kalifornien) zu entmachten.
Die wachsende Zahl von so genannten Recalls in der ganzen Welt hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dies geschah in Lateinamerika, in Osteuropa und auch in langjährigen und konsolidierten Demokratien wie Deutschland (etwa in der Stadt Duisburg) oder den Vereinigten Staaten.
Eines der bekanntesten Beispiele ist der demokratische Gouverneur von Kalifornien, Gray Davis. Er wurde 2003 nach einer von Bodybuilder und Filmstar Arnold Schwarzenegger initiierten Kampagne abgewählt. Dies führte dazu, dass Schwarzenegger für die Republikanische Partei Gouverneur des Bundesstaats wurde.
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Das radikalste Volksrecht – in der Schweiz nur Drohkulisse
Letztes Jahr wurde im selben Bundesstaat eine weitere Abwahl des Gouverneurs veranlasst. Die Abwahl des Demokraten Gavin Newsome wurde mit 58% der Stimmen abgelehnt.
Rezept für ein grosses Chaos
Wissenschaftliche Studien (siehe Infobox) legen nahe, dass die meisten Recall-Abstimmungen eher dazu dienen, die gegnerischen Eliten zu destabilisieren, als Instrumente der Rechenschaftspflicht zu sein. Selbst wenn die Abwahl erfolglos ist, verbleibt die gewählte Amtsperson oft in einer geschwächten Position und es kann zu politischer Instabilität führen.
Dies war der Fall bei der Bürgermeisterin von Lima, Susana Villarán. Diese überstand am 17. März 2013 einen Recall, aber ihre Regierung wurde geschwächt, weil mehr als die Hälfte der Ratsmitglieder abgewählt wurde und sie bei den Neuwahlen ihre bisherige Mehrheit verlor.
Gustavo Petro, der 2012 zum Bürgermeister von Bogotá gewählt wurde und als Favorit für die bevorstehenden kolumbianischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2022 gilt, wurde 2013 aufgrund eines Entlassungsbeschlusses der Generalstaatsanwaltschaft seines Amts enthoben. Dies geschah nur wenige Tage vor einer geplanten Recall-Wahl, die dann abgesagt wurde.
In Warschau (Polen) wurde die Bürgermeisterin Hanna Gronkiewicz-Waltz und in Chisinau (Moldawien) der Bürgermeister Dorin Chirtoacă nicht abgewählt, nachdem die erforderliche Wahlbeteiligung nicht erreicht wurde, wodurch das Verfahren ungültig war. Ihr Mandat beendeten beide danach in einer schwächeren politischen Position.
In all diesen Fällen erwies sich das Recall-Verfahren als kontraproduktiv, unabhängig davon, ob die gewählte Amtsperson im Amt blieb oder nicht. Anstatt die Regierungsführung zu verbessern, schadeten sie der Demokratie, untergruben die öffentliche Debatte und zogen öffentliche Ressourcen ab.
Eine Möglichkeit, korrupte Politikerinnen und Politiker abzustrafen – oder…
Nichtsdestotrotz werden Recalls auch eingesetzt, um ihre Hauptfunktion zu erfüllen, nämlich gewählte Amtspersonen zur Verantwortung zu ziehen. Sie werden oft im Zusammenhang mit den zahlreichen Korruptionsvorwürfen erhoben, die in allen Ländern vorkommen. Darunter auch der Vorwurf, dass gewählte Amtspersonen ihre Ämter für persönliche Vorteile nutzen.
Viele öffentliche Umfragen bestätigen das wachsende Misstrauen zwischen der Bürgerschaft und ihrer Regierung. In Europa – so das Global Corruption Barometer 2021Externer Link – glaubt eine Mehrheit von 53%, dass die Regierungen von einigen wenigen grossen Interessen geleitet werden, die nur auf sich selbst schauen.
Fast ein Drittel der befragten Menschen glaubt, dass die Korruption in ihrem Land zunimmt. 44% glauben, dass sich das Vertrauen in Zukunft nicht verbessern wird. Vor diesem Hintergrund wurden in immer mehr Ländern der Welt Recall-Abstimmungen eingeführt.
Während des letzten französischen Präsidentschaftswahlkampfs schlug La France Insoumise, eine linke politische Partei unter der Führung von Jean-Luc Mélenchon eine Verfassungskonvention vor, um eine Sechste Republik mit starken Rückruf-Bestimmungen zu schaffen. Mélenchon kandidiert am kommenden Sonntag erneut in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen.
…eine Schweizer Erfindung, die fast überflüssig gemacht wurde
In der Schweiz steht dieses Verfahren den Wahlberechtigten seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einigen Kantonen zur Verfügung. Das Land war sogar das erste, wo Teile der Bevölkerung die Möglichkeit hatten, gewählte Amtspersonen durch eine Volksabstimmung abzuwählen.
Zwischen 1846 und 1915 führten neun Schweizer Kantone dieses Verfahren ein. In sechs von ihnen ist die Abwahl noch immer möglich: Bern, Schaffhausen, Solothurn, Tessin, Thurgau und Uri.
Interessanterweise hat das Schweizer Stimmvolk trotz dieser frühzeitigen und weitreichenden Möglichkeit nur ein einziges Mal gewählte Amtsträger abberufen: im Juli 1862, als 63% der (männlichen) Wähler im Kanton Aargau die vorzeitige Beendigung des Parlamentsmandats unterstützten. Die Regierung sah sich gezwungen, zurückzutreten und Neuwahlen auszurufen.
«Die Einführung anderer Instrumente der modernen direkten Demokratie – wie Bürgerinitiativen oder Volksabstimmungen per Referendum – haben Recalls in der Praxis fast überflüssig gemacht», sagt der Politikwissenschaftler Uwe Serdült, der am Zentrum für Demokratie der Universität Zürich in Aarau lehrt.
In jüngster Zeit haben jedoch mehrere politische Skandale die Idee von Abwahl-Abstimmungen in der Schweiz wiederbelebt: Im Kanton Genf, wo ein Mitglied der Exekutive beschuldigt wurde, unrechtmässige Vorteile von einer ausländischen Regierung zu geniessen, stimmten Ende November letzten Jahres mehr als 90% der Wahlberechtigten für die Einführung einer Recall-Möglichkeit.
Und im Kanton Aargau werden die Bürgerinnen und Bürger am 15. Mai darüber entscheiden müssen, ob ein neues Verfahren zur Abwahl gewählter Exekutivbeamtinnen und -beamter durch das Parlament eingeführt werden soll.
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
Ausgewählte Forschungspublikationen zum Thema Recalls
Japan: Okamoto, M. & Serdült, U. (2020) «Recall in Japan as a Measure of Vertical Accountability», in Welp, Y. & Whitehead, L. (2020) «The Politics of Recall Elections», London: Palgrave.
Kolumbien: Welp, Y. & Milanese, J.P. (2018) «Playing by the rules of the game. The partisan use of recall referendums in Colombia». Democratization, 25(8), 1379–1396.
Weltweite Trends:Welp, Y. & Whitehead, L. (Eds) (2020) «The Politics of Recall Elections». Palgrave, pp. 159–178.Externer Link
Serdült, U. & Welp, Y. (2017) «The levelling up of a political institution. Perspectives on the recall referendum», in S. P. Ruth, Y. Welp & L. Whitehead (Eds.), «Let the people rule? Direct democracy in the twenty-first century», Colchester: ECPR Press, pp. 137–154.
Polen: Piasecki, A. (2011) «Twenty Years of Polish Direct Democracy at the Local Level,” in Schiller, T. (Ed.), Local Direct Democracy in Europe, Germany: Springer, pp., 126–137.
Peru: Welp, Y. (2016) «Recall referendums in Peruvian municipalities: a political weapon for bad losers or an instrument of accountability?» Democratization, 23(7), pp. 1162–1179.
US: Zimmerman, J.F. (1997) «The Recall: Tribunal of the People». New York: Praeger Publishers.
Deutschland: Geissel, B & Jung, S (2018) “Recall in Germany: Explaining the Use of a Local Democratic Innovation”, Democratization Vol 25 (8).
Schweiz: Rappard, W. (1912) “The initiative, referendum and recall in Switzerland”. Annals of the American Academy of Political and Social Science 43, pp. 110–45. Serdült, U. (2015) “A dormant institution – history, legal norms and practice of the recall in Switzerland». Representation: Journal of Representative Democracy, 51 (2), pp. 161-172.
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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