Wie Mussolini die Schweiz irritierte
Vor genau hundert Jahren gelang Benito Mussolini als Führer der italienischen Faschisten mit dem "Marsch auf Rom" die Machtübernahme. Die offizielle Schweiz reagierte mit Vorsicht auf die Ereignisse, um die guten Beziehungen zum Nachbarland nicht zu kompromittieren.
Ende Oktober 1922 fand Bundesrat Giuseppe Motta,Externer Link Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements (des damaligen Schweizerischen Aussenministeriums), auf seinem Schreibtisch die Abschrift eines Briefs aus dem Kanton Tessin. Das Schreiben beschrieb die Ereignisse der letzten Tage im grenznahen italienischen Städtchen Como.
«In Como hat die Fascistenmiliz die Präfektur besetzt, wobei es zwischen den bewachenden Truppen und den Schwarzhemden zu Verbrüderungsszenen kam. Das Zusammenwirken der regulären Armee und der Fascisten wird zusehends offener betrieben.» (Zitat in Originalschreibweise)
Zwischen dem 28. und 29. Oktober waren auch zahlreiche in Chiasso lebende Faschisten unter der Führung des Direktors der Gaswerke von Chiasso, Francesco Miceli, ins nahe gelegene Como gekommen, um sich am Aufstand zu beteiligen. «Sie übten zudem an der Grenze in Ponte Chiasso durch ihre Posten auf italienischer Seite eine Kontrolle aus, um ihnen nicht genehme Schweizer aufzuhalten.»
Am Sonntagmorgen, dem 29. Oktober, begab sich Miceli in die Wohnung eines Schweizer Journalisten in Chiasso, um ihm zu befehlen, «ohne Erlaubnis des faschistischen Kommandos in Como nichts an die Schweizer Presse zu senden». Der Schweizer Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, der in Ponte Chiasso lebte, musste seinerseits in die Schweiz zurückkehren.
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Lokale Aufstände und Machtergreifung
Die Ereignisse in Como waren keine Ausnahme. Während mehrere Zehntausend Faschisten in Richtung Rom marschierten, hatten die Schwarzhemden in vielen italienischen Städten und einigen kleineren Orten Präfekturen, Post- und Telegrafenämter sowie Bahnhöfe besetzt.
Am 28. Oktober beschrieb der Schweizer Botschafter in Rom, Georges WagnièreExterner Link, in einem Telegramm an Bundesrat Motta in wenigen Worten die Situation: «Stadt militärisch besetzt Ordnung aufrecht stop Fascisten regieren in verschiedenen Städten zweiten Ranges Situation gespannt aber nicht beunruhigend. Zugverkehr unterbrochen.»
Als der Schweizer Diplomat gegen 13 Uhr den Text des Telegramms verfasste, wusste er wohl nicht, dass sich der italienische König Vittorio Emanuele III. am Morgen geweigert hatte, das von Ministerpräsident Luigi Facta vorgelegte Dekret zur Niederschlagung des Aufstands zu unterzeichnen. De facto überliess er damit den Faschisten freie Hand.
Der König erteilte einen Tag später Benito Mussolini den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung. «[Er] kommt morgen nach Rom» telegrafierte Wagnière noch am selben Abend lakonisch an Motta und fügte hinzu: «Öffentliche Meinung beruhigt durch friedliche Lösung des Konfliktes.»
Entgegen den Behauptungen des Botschafters löste die Ernennung Mussolinis in Wirklichkeit eine neue Welle der Gewalt aus: Ab dem 28. Oktober griffen faschistische Gruppen Druckereien und Redaktionen an und verhinderten die Herausgabe von Zeitungen, die ihrer Bewegung feindlich gesinnt waren.
In vielen Regionen wurden nicht-faschistische Kommunalverwaltungen gestürmt; im ganzen Land nahmen die Angriffe auf Gegner zu.
Am 2. November zeigt sich Wagnière in einem Brief an Motta schliesslich beunruhigt über den Einbruch faschistischer Gruppen in die beiden Konsulate und die französische Botschaft sowie «in zahlreiche Privathäuser».
Angst um die Grenzen
Abgesehen von der Sorge um die Unversehrtheit der diplomatischen Niederlassungen hatte die Schweiz auch politische Gründe, den Aufstieg des Faschismus zu fürchten.
Die von Mussolini angeführte Bewegung hatte die irredentistischen Bestrebungen verstärkt, die dem italienischen Nationalismus seit dem Risorgimento (Epoche der italienischen Geschichte zwischen 1815 und 1870) eigen waren.
Im Sinne des Irredentismus hätten alle italienischsprachigen Regionen mit dem Königreich Italien vereint werden sollen. Im Blickfeld dieser Ideologie standen unter anderem der Kanton Tessin und die italienischsprachigen (manchmal auch romanisch-sprachigen) Täler Graubündens.
«Der Kanton Tessin, verdorben und germanisiert, kann eine Quelle ernster Sorge für die Sicherheit der Lombardei und ganz Norditaliens sein.» Benito Mussolini
Die Doktrin des Irredentismus ging einher mit geopolitischen Überlegungen zum «natürlichen Grenzverlauf» der Alpen.
Mussolini hatte selbst wesentlich dazu beigetragen, die Ängste der Schweiz vor territorialen Ansprüchen Italiens zu schüren.
In seiner ersten Rede als Parlamentsabgeordneter im Juni 1921 beklagte der Führer des Faschismus, dass die italienische Grenze nördlich von Mailand nicht auf dem Alpenkamm liege.
«Der Kanton Tessin, verdorben und germanisiert, kann eine Quelle ernster Sorge für die Sicherheit der Lombardei und ganz Norditaliens sein.»
Die Rede spiegelte Sympathien für die irredentistischen und faschistischen Gruppen im Tessin. In der Schweiz löste sie heftige Proteste aus. Bundesrat Motta forderte eine Erklärung der italienischen Regierung.
Erst nach einer Intervention des damaligen italienischen Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti in der Abgeordnetenkammer, in der die Neutralität und die Friedenspolitik der Schweiz anerkannt wurden, beruhigten sich die Geister.
Zusicherungen und Handel
Der Aufstieg Mussolinis an die Macht warf viele Fragen zur Zukunft der italienisch-schweizerischen Beziehungen auf. Nachdem er den Regierungsauftrag erhalten hatte, sandte der faschistische Führer aber einige Signale der Entspannung.
Am 2. November schickte er eine Grussbotschaft an Bundesrat Motta, und am 10. desselben Monats gewährte er Botschafter Wagnière eine erste Audienz.
Der neue italienische Regierungschef schickte sich an, die Zweifel und Befürchtungen zu zerstreuen, die seine Rede im Vorjahr geweckt hatten. Er versicherte Wagnière, «dass es keine territorialen Fragen zwischen Italien und der Schweiz geben darf». Über das Thema einer angeblichen Germanisierung des Tessins wurden bei dieser Gelegenheit nur einige Witze gemacht.
Hinter den Kulissen setzte sich der Schweizer Botschafter in Rom derweil auf Ersuchen von Motta dafür ein, dass Mussolini in seiner ersten Rede als Regierungschef vor dem Parlament die guten Beziehungen zur Schweiz erwähnen sollte. Damit sollte auch die Schweizer Presse beruhigt werden.
Die Operation war von Erfolg gekrönt: Am 16. November erklärte Mussolini im aussenpolitischen Teil seiner Rede: «Um die Pessimisten zu widerlegen (…), genügt es, daran zu erinnern, dass unsere Beziehungen zur Schweiz absolut freundschaftlich sind. Es ist ein Handelsabkommen in Vorbereitung, das nach seinem Abschluss einen Beitrag zu Festigung unserer Beziehung leisten wird.»
Die Verhandlungen über die Erneuerung des Handelsabkommens zwischen den beiden Ländern, die kurz vor dem Marsch auf Rom begonnen hatten, wurden im Januar 1923 tatsächlich erfolgreich abgeschlossen.
In der Zwischenzeit intervenierte Mussolini wiederholt, um die guten Beziehungen zur Eidgenossenschaft aufrechtzuerhalten und den irredentistischen Zielsetzungen einiger faschistischer Kreise Einhalt zu gebieten.
Verdeckte Drohungen
Die Äusserungen des italienischen Regierungschefs zur Schweiz im November 1922 vor dem Parlament fanden in der Schweizer Presse ein breites Echo. Und sie trugen dazu bei, die durch die faschistische Machtergreifung ausgelösten Ängste zu zerstreuen – zumindest in der bürgerlichen Öffentlichkeit.
Das Lob für gut-nachbarschaftlichen Beziehungen fand jedoch im Rahmen einer Rede statt, die als «Biwak-Rede» in die Geschichte eingehen sollte. Andere Passagen in Mussolinis Rede vor dem Parlament liessen durchaus den gewalttätigen und erpresserischen Charakter des neuen Regimes durchscheinen.
„Ich hätte dieses taube, graue Haus zum Biwak für meine Legionen machen können. Ich hätte dieses Parlament einfach zumachen und eine Regierung nur aus Faschisten bilden können. Ich hätte es tun können, aber ich wollte das nicht, oder zumindest noch nicht“, donnerte der Führer des italienischen Faschismus. Doch dieser Satz fand in der Schweiz ein eher verhaltenes Echo.
Mussolinis Haltung war ambivalent. Sie wechselte zwischen verschleierten Drohungen und Gesten der Entspannung. Diese Ambivalenz sollte die Beziehungen zur Schweiz in den folgenden Jahren prägen.
Der italienische Regierungschef war bereit, zu intervenieren und die radikalsten Vertreter seiner Bewegung zur Ordnung zu rufen, verlangte aber im Gegenzug die Neutralität der Schweizer Presse und eine strenge Kontrolle der antifaschistischen Aktionen in der Schweiz.
Bundesrat Giuseppe Motta, der bis zu seinem Tod im Jahr 1940 das Aussenministerium leitete, war sich der faschistischen Gewalt durchaus bewusst. Zeitweise betraf diese auch in Italien lebende Schweizerinnen und Schweizer.
Motta sah sie jedoch in erster Linie als Reaktion auf die Welle von Streiks und Aufstandversuchen der Linken während der so genannten zwei roten Jahre (Biennio rosso). Die rauen Methoden der Faschisten in Italien waren ihm lieber als die Risiken einer bolschewistischen Revolution.
Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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