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Wie viel Nahrung braucht die Schweiz zum Überleben?

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Die Schweiz produziert nur rund die Hälfte der Nahrungsmittel, die ihre Bewohner konsumieren. Emanuel Ammon/AURA

Genügend Nahrung für den Eigengebrauch und den Export: ein permanenter Balance-Akt. In der politischen Pipeline befinden sich gleich drei Volksinitiativen, welche die Schweizer Landwirtschaft und nachhaltig produzierte Nahrung fördern wollen.


Im Juli zog eine Gruppe Landwirte mit einer bunten Palette eigener Agrarprodukte durch die Strassen der Hauptstadt. Mit ihrer Manifestation wollten sie die Öffentlichkeit wissen lassen, dass es in einer Rekordzeit von drei Monaten gelungen war, 150’000 Unterschriften für eine Initiative zur Ankurbelung der landwirtschaftlichen Produktion zu sammeln.

Die erfolgreiche Aktion des Schweizerischen  Bauernverbands war nicht nur der Beweis für eine effiziente Organisation, sondern auch ein Zeichen für die Popularität landwirtschaftlicher Anliegen in der Bevölkerung.

Agrarzahlen und -fakten

Die Anzahl Schweizer Bauernbetriebe ist in den letzten 30 Jahren von 125’300 auf rund 55’200 gesunken.

Auch die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist kontinuierlich kleiner geworden. Laut Bundesamt für Statistik sind noch 159’000 Personen im Agrarsektor tätig.

Erst wenige Monate zuvor hatte die Grüne Partei eigene Vorschläge präsentiert, wie der Qualitätsstandard importierter Agrarprodukte zu erhöhen sei. Ihre «Fair Food»-Initiative zielt darauf ab, die nachhaltige Produktion zu fördern, sowohl in der Schweiz wie im Ausland.

Für Maya Graf, Nationalrätin der Grünen Partei und selber Biobäuerin, ist es entscheidend, dass die Schweiz ein umweltfreundliches und unter fairen Bedingungen zustande gekommenes Nahrungsmittel-Angebot sicherstellt. «Nahrungsmittel sind keine Güter wie Uhren, die einfach hin und her geschoben werden können. Es sind sensible Produkte. Dort, wo sie hergestellt werden, beeinflussen sie das Leben der Menschen, die Umwelt und das Klima», sagt sie. «Ernährungssicherheit ist ausgesprochen wichtig.»

Im September will Uniterre eine Initiative mit einem leicht unterschiedlichen Anliegen lancieren. Die eher linksorientierte Bauernbewegung verlangt von der Regierung, dass diese ein wettbewerbsfähiges Agrarsystem fördert, das in der Lage ist, «gesunde Lebensmittel aus einer vielfältigen bäuerlichen Landwirtschaft der Schweiz zu produzieren, die ihre Kosten decken kann und den sozialen und ökologischen Erwartungen der Bevölkerung gerecht wird».

Die landwirtschaftlich genutzte Fläche umfasste 2013 noch 1,05 Mio. Hektaren, 14% des anbaufähigen Landes.                     

Selbstversorgung

Die Schweiz importiert mehr landwirtschaftliche Produkte als sie exportiert. Die eigene Produktionsmenge hat in den letzten Jahren stagniert, wie die untenstehende Grafik zeigt.

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Sowohl die Initiative von Uniterre wie jene des Bauernverbands zielen darauf ab, die inländische Produktion zu erhöhen, aber ohne konkrete Zielvorgaben.

Heute liegt der Selbstversorgungsgrad der Schweiz bei 64%. Die bereinigte Selbstversorgung, welche die importierten Futtermittel einberechnet, liegt allerdings nur bei 56%. Das ist gemäss einer Analyse der Welternährungsorganisation FAO von 2009 ein tiefer Wert im Vergleich mit anderen Ländern.

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Argentinien weist mit 273% den höchsten Selbstversorgungsgrad aus, Norwegen mit 50% den niedrigsten.

Diese Zahlen müssten – nicht nur wegen des Datums 2009 – mit Vorsicht verwendet werden, sagt Daniel Erdin, Chef der Statistikabteilung des Bauernverbands. «Die Daten der einzelnen Länder sind von unterschiedlicher Qualität und basieren auf Schätzungen, auch in der Schweiz. Der Vergleich der Daten von einzelnen Jahren ist weniger aussagekräftig als eine Analyse der Langzeitentwicklung, wie zum Beispiel eine stetige Zunahme oder ein dramatischer Einbruch über ein paar Jahrzehnte hinweg», sagt Erdin.

Ausserdem würde eine vergleichende Statistik über Proteingehalt und Mineralstoffe in der Nahrung ein anderes Bild ergeben: «Der Wert des Essens lässt sich nicht allein in Zahlen fassen. Dieses hat auch einen Genusswert.»

Keine Isolation

Eine komplette Selbstversorgung anzustreben, sei eine Illusion, sagt Stefan Vannoni vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse in Bezug auf die Initiative des Bauernverbands. «Die Schweiz ist auch landwirtschaftlich keine Insel», im Gegenteil, sagt er: «Die Schweiz sollte ihre Handelsbeziehungen absichern und die landwirtschaftliche Produktion verbessern.»

Er warnt vor Versuchen, einen maximalen Selbstversorgungsgrad anzustreben, insbesondere vor protektionistischen Massnahmen. «Versorgungssicherheit erreicht man mit einer effizienten landwirtschaftlichen Produktion und guten Handelsbeziehungen.»

In die gleiche Kerbe haut der unabhängige Agrarexperte Andrea Bosshard. Die Forderung nach mehr Unabhängigkeit bezeichnet er als populistisch. Es brauche Zeit, um die letzte Agrarreform umzusetzen (Vgl. «Agrarpolitik» in der rechten Spalte).

Agrarpolitik

Im Frühling 2013 sagte das Parlament ja zur letzten von mehreren Agrarreformen. Ein konsolidiertes System von Direktzahlungen soll für Nachhaltigkeit sorgen und das Nahrungsmittel-Angebot sicherstellen.

Gegenwärtig sind drei Initiativen in unterschiedlichen Stadien des direktdemokratischen Verfahrens hängig, die Veränderungen der offiziellen Agrarpolitik fordern.

Der Bauernverband deponierte im Juli die erforderliche Anzahl Unterschriften bei der Bundeskanzlei. Seine Initiative verlangt Massnahmen, um den Rückgang der landwirtschaftlichen Produktionsflächen zu stoppen und die inländische Nahrungsmittelproduktion zu fördern.

Die Grüne Partei lancierte im Januar ihre «Fair-Food»-Initiative. Sie verlangt, dass klare Regeln für eine landwirtschaftliche Produktion festgelegt werden, die auf die Umwelt, das Wohl der Tiere und die Arbeitsbedingungen (insbesondere bei Importprodukten) Rücksicht nimmt.

Die landwirtschaftliche Bewegung Uniterre will ihre Initiative im September lancieren. Diese zielt darauf ab, inländische Produktion und Arbeitskräfte zu bevorzugen und die Importe zu beschränken.

Dialog

Zur Debatte über Nachhaltigkeit und Lebensmittelsicherheit geäussert hat sich auch Bernard Lehmann, Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft. Es brauche einen Dialog zwischen jenen, die sich um die künftige Versorgungssicherheit sorgten und den Befürwortern einer umweltfreundlichen Produktion. Bundesrat und Parlament haben mit ihren Entscheidungen in den letzten Jahren Stellung bezogen: «Die Agrarpolitik ist für sie nicht ein ‹entweder oder›. Die Landwirtschaft muss einen Weg finden, die natürlichen Ressourcen, die als Produktionsgrundlage dienen, zu erhalten und deren Qualität sicherzustellen», sagt Lehmann.

«Gleichzeitig muss sie diese Ressourcen so nutzen, dass sie genügend qualitativ hochwertige Nahrungsmittel für eine wachsende Bevölkerung produzieren kann.»

Er kritisiert rechtsgerichtete Gegner der aktuellen Landwirtschaftspolitik und fordert einen Dialog zur Klärung der Detailfragen.

Mit Blick zurück auf die letzten Jahre sagt Lehmann, dass sich frühere Debatten auf eine mögliche Überproduktion von Nahrungsmitteln in industrialisierten Ländern fokussierten. Aber in den nächsten 30 Jahre könnten sich entscheidende Veränderung abspielen.  Laut Lehmann wird sich die Nachfrage nach Nahrungsmitteln bis 2050 wahrscheinlich um 60% erhöhen. 

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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