«Wir verteidigen eine offene, solidarische und gerechtere Schweiz»
Die Arbeitsbedingungen für ältere Arbeitnehmer und die Beibehaltung eines für mittlere und tiefe Einkommensklassen vorteilhaften Rentensystems: Das sind die beiden Themen, auf welche die Sozialdemokratische Partei (SP) in der nächsten Legislatur ihren grössten Akzent setzen will. Interview mit Parteipräsident Christian Levrat.
Die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union und die Migrationspolitik gehören zu den heissen Dossiers der Bundespolitik. Laut Ständerat Christian Levrat, welcher der SP seit 2008 vorsteht, können diese Fragen mit Massnahmen in der inländischen Sozial- und Wirtschaftspolitik gelöst werden. Es sei zentral, den Bedürfnissen älterer Arbeitnehmer, denen der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt drohe, wirksam entgegenzukommen.
swissinfo.ch: Welches sind die beiden wichtigsten Prioritäten der SP für die nächste Legislaturperiode?
Christian Levrat: Arbeit und Rente sind zwei fundamentale Dossiers für die Sozialdemokraten. Unsere grössten Anliegen sind die Beschäftigung älterer Angestellter und die Arbeitsbedingungen für Frauen, wie auch die Aufrechterhaltung eines Rentensystems, das vorteilhaft für mittlere und tiefe Einkommensklassen ist.
Die SP stand Patin bei der Gründung der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV). Und sie ist auch heute noch eine Garantin dafür. Diese Rolle wollen wir weiterhin pflegen, auch wenn wir wissen, dass andere Fragen – die Europafrage, die Migrationspolitik – ganz klar im Zentrum der politischen Debatte stehen.
swissinfo.ch: Wie weit will die SP gehen, um die bilateralen Abkommen mit der EU zu retten?
C.L.: Für mich ist absolut klar, dass wir diese bilateralen Verträge beibehalten müssen. Doch ich denke nicht, dass das Spiel ausserhalb der Schweiz entschieden wird; die Frage wird in der Innenpolitik entschieden. Gekämpft wird um die flankierenden Massnahmen, jene sozial- und wirtschaftspolitischen Instrumente, welche die SP unterstützt, damit auch der Mittelstand und Menschen mit niedrigem Einkommen vom relativen Wohlstand unseres Landes profitieren können.
Es müssen konkrete Massnahmen ergriffen werden, beginnend bei einer Bildungs-Offensive, besonders für Jugendliche und Frauen, über eine Aufwertung der Löhne in bestimmten Branchen und effiziente Kontrollen auf dem Arbeitsmarkt bis hin zu solchen, die älteren Arbeitnehmenden erlauben, in ihren Firmen zu bleiben.
Diese Frage der älteren Arbeitnehmenden ist entscheidend. Wir schlagen vor, die Möglichkeiten zur Entlassung älterer Angestellter über 50 Jahre zu beschränken, Umschulungs-Massnahmen für Angestellte anzubieten und flexible Pensionierungs-Systeme einzuführen, die es erlauben, sich schrittweise aus dem Berufsleben zu verabschieden.
swissinfo.ch: Welche Rezepte hat die SP, um die Auswirkungen des starken Frankens abzufedern?
C.L.: Wir erachten vier Massnahmen als unerlässlich. Erstens die Wiedereinführung eines Mindestkurses. Ob dieser stillschweigend oder explizit festgehalten wird, ist egal. Wichtig ist nicht, dass der Direktor der Schweizerischen Nationalbank ausdrücklich einen Mindestkurs ankündigt. Wichtig ist vielmehr, dass die Märkte verstehen, dass die Nationalbank eine Limite festgelegt hat und nicht zulassen wird, dass der Schweizer Franken unvernünftig eingeschätzt wird.
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Die Sozialdemokratische Partei und die 5. Schweiz
Die zweite Massnahme betrifft staatlich unterstützte Investitionen im Bereich Innovation und Forschung. Der Grossteil der Nachbarländer oder der Konkurrenten der Schweiz unterstützen Firmen, die Stellen schaffen, stärker.
Drittens müssen wir verhindern, dass die Unternehmen den starken Franken zum Vorwand nehmen, um eine ganze Reihe von Massnahmen zu ergreifen, welche die Arbeitsbedingungen der Angestellten verschlechtern.
Die vierte Massnahme: Wir müssen sicherstellen, dass auch die Konsumenten von den Wechselkursgewinnen der Importeure und Supermärkte profitieren. Das bedeutet vermutlich, dass die Schweiz erneut über das Kartellgesetz diskutieren muss. Alles, was in allen westlichen Ländern betreffend Wirtschaftskartelle und Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verboten ist, bleibt in der Schweiz erlaubt. Wir brauchen ein wirksameres Wettbewerbs-System.
swissinfo.ch: In den letzten Jahren sorgte der Islam für Polemik. Kopftuch-Debatte, Radikalisierung, Terrorismus. Welchen Platz soll der Islam gemäss der SP in der Schweizer Gesellschaft einnehmen?
C.L.: Die Mehrzahl der Kantone anerkennt drei offizielle Religionen: die reformierte, die katholische und die jüdische. Ich bin der Meinung, diese Liste sei auf den Islam auszuweiten, es muss einen Islam in der Schweiz geben. Man muss diesen Islam sichtbar machen, den Muslimen erlauben, ihre Religion friedlich auszuleben und Imame in der Schweiz ausbilden.
Dabei muss garantiert werden, dass diese Imame eine der Nationalsprachen perfekt beherrschen und die fundamentalen Werte kennen, auf denen unsere Gesellschaft basiert. Wir brauchen hier keine salafistischen Imame!
Die Universität Freiburg verfolgt ein interessantes Projekt mit einem islamischen Institut, dank dem der Dialog zwischen den Religionen vertieft werden soll. Die Universität Freiburg ist eine alte katholische Hochschule mit einer starken dominikanischen Prägung. Das erscheint mir der idealste Ort in Europa für einen Dialog zwischen den Religionen und eine Ausbildung muslimischer Theologen.
Sozialdemokratische Partei
Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) wurde 1888 gegründet und blieb während mehreren Jahrzehnten in der Opposition. Nach der Einführung des Proporzsystems bei den Wahlen 1918 konnte sie ihre Wähleranteile wesentlich erhöhen.
Von 1928 bis zu 1979 war die SP bei den Nationalratswahlen die wählerstärkste Partei. Gegenwärtig liegt sie an zweiter Stelle hinter der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP).
Nach einer Verbesserung der Resultate zwischen 1991 und 2003 verlor die SP 2007 ganze 3,8 Prozentpunkte und fiel unter die 20%-Marke (19,5%). 2011 setzte sie den Abwärtstrend auf 18,7% fort.
Die grösste Vertreterin der politischen Linken erreichte 1943 erstmals einen Sitz im Bundesrat, 1959 den zweiten. In der Landesregierung wird sie gegenwärtig von Innenminister Alain Berset und Justizministerin Simonetta Sommaruga vertreten.
swissinfo.ch: Die SP lancierte eine Initiative zur Einführung von «Kindergutschriften». Inzwischen haben Sie diese auf Eis gelegt. Beschäftigt Sie diese Frage nicht mehr?
C.L.: Im Gegenteil. Wir wollten uns aber auf die Kampagne gegen die Volksinitiative der Christlichdemokratischen Volkspartei konzentrieren, die verlangte, die Besteuerung von Kinderzulagen aufzuheben. Davon hätten aus Gründen der Progression auf den Einkommenssteuern zuallererst wohlhabende Familien profitiert.
Zudem erwarten wir einen Bericht mit Zahlen, den uns das Finanzdepartement versprochen hat und der uns die Machbarkeit dieser «Kindergutschrift» einzuschätzen erlaubt. Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf erklärte, dass sie die Idee unterstütze, dass jede Familie pro Kind einen gleich hohen Rabatt auf der Steuerrechnung erhält, unabhängig von ihrem Einkommen.
Das ist ein ernstgemeintes Projekt, das wir im Parlament voranbringen wollen. Mit der Unterstützung von Eveline Widmer-Schlumpf und all jener, die uns während Monaten erklärt haben, die Familienpolitik sei ihre Priorität, denken wir, eine Mehrheit zu finden. Wir schlagen ein wirkungsvolleres System vor, weil es auf Familien abzielt, die Hilfe brauchen.
swissinfo.ch: 2015 hat für die Sozialdemokraten schlecht angefangen. Sie wurden aus der Regierung des Kantons Basel-Landschaft ausgeschlossen, wo Sie seit 90 Jahren mitregierten. Sind die Resultate aus kantonalen Wahlen ein Indikator für die nationalen Wahlen, oder bleibt Ihr erklärtes Ziel, im Oktober von 18,7 auf 20% Wählerstärke zuzulegen?
C.L.: Das ist ein sehr bescheidenes Ziel, und ich habe das Gefühl, wir sind auf dem richtigen Weg. Wir sind eine Partei mit einer sehr starken Identität. In den letzten Jahren haben wir bewiesen, dass wir starke Vorschläge machen können.
Unsere Positionen sind klar und schlüssig: Wir verteidigen eine offene, solidarische und gerechtere Schweiz. Wir wollen die Menschenrechte stärken und sind überzeugt, dass das Völkerrecht den besten Schutz für ein derart kleines Land in einem globalisierten Umfeld bietet und die Verteidigung des Rechts gegen Gewalt für die Schweiz eine Frage des Überlebens ist. Ich bin zuversichtlich für die eidgenössischen Wahlen.
(Das Interview wurde im März 2015 geführt)
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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