«Wir waren nicht vorbereitet, die Schwächsten und die Gesellschaft zu schützen»
Vor einem Jahr wurde in der Schweiz die erste Person registriert, die sich mit dem Coronavirus infiziert hatte. Es war der Auftakt einer Pandemie, an der im Land bisher fast 10'000 Menschen gestorben sind.
Welche Lehren können wir aus dieser Krise ziehen? Welche Fehler wurden gemacht und wo haben wir richtig gehandelt? Wir sprachen darüber mit der italienischen Biologin und Wissenschaftsjournalistin Barbara Gallavotti, die in Zürich lebt.
Am 25. Februar 2020 wurde die Schweiz in die Liste der vom damals neuen Coronavirus betroffenen Länder aufgenommen. Eine im Tessin lebende Person, die nach Italien gereist war, wurde positiv getestet.
Die ausgebildete Biologin arbeitet für das italienische Fernsehen sowie für Radio und Fernsehen der Italienischsprachigen Schweiz RSI.
Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Museums für Wissenschaft und Technik in Mailand sowie Dozentin für Wissenschaftskommunikation.
Die Autorin des Buches «Le grandi epidemie, come difendersi» («Die grossen Epidemien und wie man sich dagegen wehrt», 2019) gewann bisher mehrere Preise und Auszeichnungen.
swissinfo.ch: Wie beurteilen Sie ein Jahr nach dem ersten Fall die Massnahmen der Schweizer Regierung im Vergleich zu anderen westlichen Regierungen?
Barbara Gallavotti: Wir können den Zeitraum in drei Phasen unterteilen. In der ersten Welle hatte die Schweiz sehr gut auf den Ausbruch in der Lombardei reagiert, der auch das Tessin erfasste.
Dann gab es eine Phase, in der die Situation von den Kantonen und nicht mehr vom Bund gemanagt wurde. Das war vielleicht der problematischste Moment, denn eine Krise dieser Art sollte global gemanagt werden, was leider nicht geschehen ist. Aber es ist wichtig, dass es zumindest eine nationale Strategie gibt. Als dann die Schweizer Regierung die Zügel erneut in die Hand nahm, ging es wieder aufwärts.
Im Vergleich zu ihren Nachbarn hat die Schweiz vor allem in der zweiten Welle eine weniger strikte Linie verfolgt. War diese Entscheidung richtig?
Auch in der Schweiz hat es einige mutige Entscheidungen gegeben, die meiner Meinung nach sehr weitsichtig waren. Im Kanton Zürich, in dem ich lebe, gab es zum Beispiel bei den Grundschulen nur sehr wenige Einschränkungen. Es war keine leichte Entscheidung, und dies war und ist nicht in allen Ländern der Fall. Es hat sicherlich einen beträchtlichen organisatorischen Aufwand gekostet, aber ich denke, es war unerlässlich, um das durch den Virus verursachte Trauma zu lindern.
Bei der Einführung des Schutzmasken-Obligatoriums in öffentlichen Räumen gab es jedoch ein gewisses Zögern, das ich nicht nachvollziehen konnte. Denn die Masken sind wesentliches Mittel im Kampf gegen eine Epidemie. In dieser Hinsicht haben andere Länder viel entschlossener gehandelt.
Ein Thema, bei dem die Schweiz stark kritisiert wurde, war die Öffnung der Skipisten. War das vernünftig?
Persönlich halte ich es für nicht unmöglich, sicher Ski zu fahren. Aber es hängt sehr von den jeweiligen Skigebieten ab. Die kleinen Resorts mit wenigen Bahnen und meist lokalen Angestellten scheinen mir überschaubar zu sein. Aber jene Destinationen, die zu einer Art letztem Zufluchtsort für Skifahrer aus ganz Europa geworden sind, weil die anderen Länder die Pisten schlossen, befanden sich dagegen in einer sehr riskanten Lage. Dies zeigen die Ausbrüche der englischen Variante, die in St. Moritz und Wengen ausbrachen, bevor die Reisebeschränkungen in Kraft traten.
Abgesehen von China, das die Pandemie anscheinend fast vollständig in den Griff bekommen hat, ist das Virus in den meisten Ländern noch nicht gezähmt. Was ist schiefgelaufen?
Die Länder, die es wirklich geschafft haben, sind hauptsächlich jene asiatische Nationen, die drastische Massnahmen ergriffen haben, die im Westen nicht durchführbar wären.
Oder Neuseeland und Australien, die dank geringerer Bevölkerungsdichte und einer ganz anderen geografischen Lage die Kontakte reduzieren können. Ich denke, es wäre unter unseren geografischen und kulturellen Bedingungen wirklich schwierig gewesen, ähnliche Ergebnisse zu erzielen.
Wir können jedoch mit Sicherheit sagen, wer sich falsch verhalten hat: Es sind jene Länder, welche die Gefahr des Virus und die Notwendigkeit von drastischen Massnahmen geleugnet haben. Darunter sind Brasilien, die Vereinigten Staaten, aber für mich auch Schweden.
Viele Länder wurden überrumpelt, viele andere haben zu spät gehandelt. Welche haben Ihrer Meinung nach am effektivsten gehandelt und warum?
In Kontinentaleuropa haben die Regierungen versucht, das Beste zu tun, was sie konnten. Dies unter Berücksichtigung der Gewohnheiten und kulturellen Bedingungen der Bevölkerung. Denn davon hängen die Akzeptanz bestimmter Massnahmen ab.
Denken wir an die Leichtigkeit, mit der Finnland die Nutzung einer Tracing-App akzeptiert hat. Sie wurde dort von mehr als der Hälfte der Bevölkerung heruntergeladen. In anderen europäischen Ländern inklusive der Schweiz wurde diese hingegen mit grosser Zurückhaltung aufgenommen.
Wir Europäer haben im Gegensatz zu Ländern wie Japan und Südkorea, die dem Wohl der Gesellschaft Vorrang vor dem Individuum einräumen, eine gewisse Schwäche gezeigt. Wir waren kulturell nicht bereit, die Schwächsten zu schützen, und wir haben uns nur sehr widerwillig um das Wohlergehen der Gesellschaft gekümmert.
Wenn nun endgültig bestätigt wird, dass die Impfung nicht nur uns selbst , sondern auch andere vor einer Ansteckung schützt: Wird dann das individuelle Recht, sich nicht impfen zu lassen, mehr wert sein als das Leben jener, die wir mit der Impfverweigerung anstecken könnten? Ich hoffe, dass wir über die individuellen Freiheiten im Verhältnis zu den Rechten anderer nachdenken werden.
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Italien war das erste westliche Land, das mit der Pandemie konfrontiert war. Wie viele Länder haben sich an den Massnahmen Italiens gegen das Virus orientiert?
Die Katastrophe in der Lombardei und in anderen Regionen hat gezeigt, welches Risiko wir eingegangen sind. Solange das Virus in Wuhan lokalisiert war, war die Bereitschaft, selber Opfer zu bringen, begrenzt. Aber zu sehen, was im Herzen Europas passierte, bot sicherlich Hand für die Akzeptanz von Massnahmen, die sonst keine Chancen gehabt hätten. Italien kam das Verdienst zu, die Ansteckungen nach der ersten Welle einzudämmen. Es zeigte, dass eine extreme Schliessung das Virus besiegen kann. Und vielleicht auch wie die Italienerinnen und Italiener den Einschränkungen des Frühlings begegnet sind: Sie zeigten eine Disziplin, die für viele im Ausland nicht selbstverständlich gewesen wäre.
Welche Auswirkungen wird diese schreckliche Erfahrung auf die italienische Gesellschaft haben?
Es wird viele Auswirkungen geben. Die Schliessung von Schulen etwa, die teils schon seit einem Jahr andauert, ist sowohl für die Schülerinnen und Schüler als auch für die Familien verheerend.
In wirtschaftlicher Hinsicht sind in vielen Bereichen Stellen verloren gegangen, die typischerweise von Frauen besetzt waren. Insbesondere in den wirtschaftlich schwachen Berufen wie Messehostessen, Verkäuferinnen und Reinigungskräfte.
Entscheidend wird die Frage sein, wie lange die Rückkehr in ein normales Leben dauern wird. Die Krise hat uns daran erinnert, dass die ersten Opfer jene Sektoren sind, die keine Grundversorgung leisten, also der Tourismus oder Grossveranstaltungen. Sektoren wie Biomedizin, Digitaltechnik und generell alles, was mit Technologie zu tun hat, sind dagegen weiterhin fundamentale Treiber der Wirtschaft.
In vielen Ländern wird bereits geimpft. Wie lange wird es dauern, bis die sogenannte Herdenimmunität weltweit erreicht ist? Und wann können wir wieder frei in der Welt herumreisen?
Um die Auswirkungen der Impfstoffe auf die Herdenimmunität zu verstehen, müssten wir mit Sicherheit wissen, inwieweit die Vakzine die Zirkulation des Virus verhindern. Wir müssten also wissen, inwieweit eine geimpfte Person zusätzlich auch die Ansteckung anderer verhindert.
Aber es gibt noch andere Faktoren zu berücksichtigen. Zum Beispiel die Frage nach den Mutationen des Virus, von denen wir noch nicht wissen, wie viel ansteckender sie sind.
Oder dass die Impfstoffe nicht an Minderjährige verabreicht werden dürfen (Personen unter 16 Jahren bei Pfitzer, unter 18 Jahren bei Moderna). Und es gibt jene, die sich nicht impfen lassen wollen. Das Erreichen einer Herdenimmunität ist somit gefährdet.
Hinzu kommt, dass in Afrika erst drei Länder mit der Impfung begonnen haben. Dasselbe gilt auch für andere Teile der Welt. Es wird geschätzt, dass grosse Teile Afrikas, Südostasiens, Zentralasiens und Südamerikas bis 2023 keine vollständige Impfabdeckung erhalten werden.
Also entweder lassen wir uns alle impfen, oder der Kampf gegen die Verbreitung des Virus ist völlig sinnlos.
Wir bewegen uns ausausweichlich auf eine Lizenz oder ein Immunitätszertifikat zu, zumindest auf globaler Ebene. Die Idee gefällt mir zwar gar nicht, aber ich denke, wir werden uns daran gewöhnen müssen.
Sie haben im Mai 2019 ein Buch publiziert mit dem Titel «Die grossen Epidemien und wie man sich dagegen wehrt». Haben Sie die Pandemie tatsächlich vorhergesehen?
Ich gebe zu, dass ich mit einer Grippe gerechnet habe, aber nicht mit einem Coronavirus dieser Art. Aber der Ausbruch einer Pandemie war eine einfache Vorhersage, die von Wissenschaftlern stammte. Die Menschheit hat in ihrer Geschichte unzählige gesundheitliche Krisen erlebt. Wir sind zwar den Terror der bakteriellen Infektionskrankheiten losgeworden, weil wir gute Antibiotika haben. Aber wir haben keine Breitspektrum-Antiviren. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis ein Virus auftauchen würde, das uns in Schwierigkeiten bringt.
Wir wussten, dass viele gefährliche Infektionserreger aufgetaucht sind, die aus der freien Wildbahn stammten. Etwa HIV, Ebola, Zika, Sars und andere, die ausser im Fall von Aids keine Pandemien auslösten. Aus diesem Grund planten einige internationale Projekte wie Predict, durch die Wälder der Welt zu ziehen, Tieren Blutproben zu nehmen und jene Viren zu identifizieren, die eine Gefahr für den Menschen darstellen könnten.
Ich hoffe, dass all dies dazu beigetragen hat, zu verstehen, dass ein zu lockeres Verhältnis zu wilden Umgebungen schädlich ist.
Corona zeigt, dass wir in Zukunft mit mehr solchen Pandemien rechnen müssen. Welche Lehren müssen wir aus der aktuellen Krise ziehen?
Pandemien hat es immer gegeben und diese wird nicht die letzte sein. Aber abgesehen von Aids, das nicht über die Luft verbreitet wird und andere Eindämmungsmassnahmen erfordert, hatten wir vergessen, wie man mit dieser Art von Pandemie umgeht. Die letzte echte Pandemie war ja die spanische Grippe von 1918 gewesen. Die meisten Länder hatten keine echten Pandemiepläne und investierten nicht genug in die Überwachung.
Aber wir können davon ausgehen, dass wir nach all dem, was passiert ist, nun besser vorbereitet sind, um zu verstehen, welche Art von Risiko wir eingehen.
Hätten wir im Januar 2020 das Tragen von Masken für alle vorgeschrieben – wären sie denn verfügbar gewesen – hätte niemand eine solche getragen. Aber heute versteht mehr oder weniger der ganze Planet die Bedeutung dieser Massnahme oder der Abstandsregel.
War aus Ihrer Sicht als Wissenschaftsjournalistin und Kommunikationsexpertin die Information der Öffentlichkeit über das Virus korrekt?
In der Schweiz gab es eine ausgewogene, koordinierte und pragmatische Kommunikation. Es gab keine Experten, die sich gegenseitig widersprachen, wie es manchmal in Italien der Fall war. Das Problem ist darauf zurückzuführen, dass die Forscher im Allgemeinen nicht mit den Mechanismen der Kommunikation vertraut sind und daher bei einer Medienanfrage nicht immer gut zwischen gemeinsamem Wissen und persönlichen Überlegungen unterscheiden konnten.
Ich persönlich habe es auch sehr geschätzt, dass man in der Schweiz sofort klargemacht hat, dass es nicht möglich ist, einen grossen Teil der Bevölkerung vor dem Sommer zu impfen.
In Italien, und vielleicht auch in einigen anderen europäischen Ländern, herrschte jedoch zu Beginn der Eindruck, dass die Impfkampagnen schneller hätten ablaufen können als realistischerweise erwartet werden konnte.
Alles in allem halte ich die Kommunikation in der Schweiz für gelungen: Die Bevölkerung wurde transparent über die Probleme informiert. Damit wurde der Boden gelegt für den Pragmatismus, der in Notfällen mehr denn je Trumpf ist.
Was ich schliesslich feststelle, sowohl in der Schweiz als auch in Italien: In der Notsituation wollen viele Menschen verstehen, was passiert, und sie vertiefen sich sogar in Materie wie Biologie, Epidemiologie oder Medizin. Dieses Interesse entspringt dem Wunsch nach Partizipation und dem Bedürfnis, informierte Entscheidungen über die eigene Gesundheit zu treffen. Das scheint mir sehr positiv.
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