«Wir werden Federn lassen müssen»

Bei der Stellung der Frauen in Tunesien werde es keinen Rückschlag geben, und gewalttätige Salafisten würden marginalisiert: Dies bekräftigte der tunesische Innenminister Ali Laarayedh während eines Aufenthalts in Genf im Gespräch mit swissinfo.ch.
Als Mitglied der islamistischen Partei Ennahda von der Bewegung der Muslim-Bruderschaft sass Ali Laarayedh bis Oktober 2004 viele Jahre in den Kerkern des Regimes von Staatschef Ben Ali, wo er gefoltert und in Isolationshaft gehalten wurde.
Seit 2011 steht Laarayedh an die Spitze des mächtigen Innenministeriums, das unter dem alten Regime für die brutale Unterdrückung der Islamisten verantwortlich war.
Das von der Schweizer Regierung geschaffene Genfer Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte (DCAF) hat jüngst ein Treffen organisiert, bei dem es um die Reform der Sicherheitskräfte in Tunesien ging.
swissinfo.ch: Was war das Ziel dieses Treffens?
Ali Laarayedh: Es ging darum, einen Überblick über die Reformen der tunesischen Sicherheitskräfte nach der Revolution zu gewinnen. Es ging um Fragen, wie man die Menschenrechte garantieren kann, wie man eine Polizei aufbaut, die weder von politischer noch von kultureller Einmischung beeinflusst wird.
Wir wollen wissen, welche strukturellen Reformen es braucht, um eine Kontrolle der Sicherheitskräfte durch Legislative und Zivilgesellschaft sicherzustellen. Und auch, wie man Beamte ausbildet, die mit den Menschenrechten gut vertraut sind und diese internalisiert haben.
swissinfo.ch: Wo stehen diese Reformen heute?
A.L.: Wir haben Projekte mit verschiedenen internationalen Organisationen und mehreren Ländern. Bei der Mehrheit der Projekte geht es um Ausbildung, den Austausch von Wissen und die Beschaffung von Ausrüstung. Wir wollen das Niveau unserer Führungskräfte und Beamten auf allen Ebenen der Sicherheitskräfte erhöhen.
swissinfo.ch: Kritische Stimmen sagen jedoch, zwischen Ihnen und den Polizeikorps sei der Funke nicht gesprungen.
A.L.: Das sind unbegründete Kommentare. Ich habe meine Dossiers im Griff. Im Kreis der tunesischen Sicherheitskräfte, zu denen die Polizei, die Nationalgarde und der Zivilschutz gehören, gibt es kein Unbehagen. Wir haben heute auch Polizeigewerkschaften, was es unter dem alten Regime nicht gegeben hatte.
swissinfo.ch: Sie haben die Repression des Regimes von Ben Ali am eigenen Leib erfahren. Wie kommt man aus dem Kerker, der Isolation, an die Spitze jenes Ministeriums, das diesen Unterdrückungsapparat verwaltete?
A.L.: 1987 war ich sogar zum Tode verurteilt worden. Dass ich heute das Innenministerium leite, ist ein konkretes Zeichen der Revolution in Tunesien. Persönlich überlasse ich diese Vergangenheit der Geschichte. Für mich besteht der wahre Sieg im Sieg der Werte, für die ich mit vielen anderen Menschen gekämpft habe. Jetzt sind wir in Tunesien daran, unsere Ziele umzusetzen, in erster Linie geht es um die Einrichtung der Demokratie.
Ich schleppe die Folgen der verschiedenen schwierigen Perioden, die ich durchgemacht habe, nicht mit mir herum. Ich arbeite mit allen Verantwortlichen zusammen, eingeschlossen solche, die mir vielleicht Unannehmlichkeiten verursacht haben, wobei es sich versteht, dass die Verantwortlichen für Übergriffe sich vor Gericht verantworten werden müssen.
swissinfo.ch: Dieser Übergang von einer Isolationszelle zu einer derart schweren Aufgabe wie der Leitung des Innenministeriums, das muss doch eine sehr besondere Erfahrung sein?
A.L.: Das ist es, vor allem wenn man sieht, dass das tunesische Innenministerium fast wie ein Staat ist – mit all den Domänen, die in den Bereich des Ministeriums fallen. Manchmal habe ich den Eindruck, ich sei ein Regierungschef. Es ist eine schwierige Aufgabe, die nicht einfach zu lernen war.
Unterdessen arbeite ich jedoch gelassen. Was mich aber beschäftigt ist, dass es viel zu tun gibt, und nur wenig Zeit, alles zu erledigen.
swissinfo.ch: Ihre Partei Ennahda hat gegenüber den Salafisten Verständnis gezeigt, bevor sie deren Extremismus kritisierte. Die Salafisten-Milizen scheinen aber ausser Kontrolle zu sein, verbreiten Angst und Schrecken. Was sagen Sie dazu?
A.L.: Praktisch überall auf der Welt gibt es Probleme mit dem Salafismus. Dieser ist ein soziales Phänomen mit verschiedenen Strömungen. Es gibt Salafisten, die friedlich sind. Sie haben ihre eigene Haltung , was Religion, Geschichte und Gesellschaft betrifft.
Was die gewalttätige Fraktion der Salafisten angeht, hatte es eine Zeit gebraucht, bis man sich in Tunesien bewusst wurde, dass eine Verurteilung von gewalttätigen Aktionen der Salafisten keine Verletzung der Freiheitsrechte bedeutet. Heute werden die Täter festgenommen und strafrechtlich verfolgt. Wir müssen alle das Gesetz respektieren.
Ich bin gegen die Vorgehensweise des Salafismus. In unserer Partei Ennahda verfolgen wir einen anderen Ansatz. Die Partei Ennahda gleicht konservativen christlichen Parteien. Sie räumt der Religion als Quelle der Inspiration auf persönlicher und familiärer Ebene einen bedeutenden Platz ein.
Aber ihre Zuwendung zur Religion ist nicht auf die Vergangenheit ausgerichtet. Die Partei will die verschiedenen Errungenschaften der zeitgenössischen Menschheit integrieren in unsere arabisch-muslimische, afrikanische, mediterrane Identität. Wir wollen zeitgenössisch sein, aber auch zu unserer Kultur stehen.
swissinfo.ch: In Europa, aber auch in Tunesien, wird teilweise ein Rückschritt bei den Menschenrechten befürchtet, vor allem was den Status und die Rechte der Frauen angeht. Was sagen Sie dazu?
A.L.: Bei den Errungenschaften für die Frauen wird es kein Zurück geben. Bei den wenigen Kreisen, die damit drohen, handelt es sich um ein kleine Minderheit. Was zählt, ist, diese Rechte in der Gesellschaft zu verwirklichen, vor allem in ländlichen Gegenden.
swissinfo.ch: Wie in Ägypten muss sich ihre Bewegung in Tunesien mit Nachwehen der Revolution auseinandersetzen. Befürchten Sie nicht, dass ihre Partei die Bevölkerung enttäuschen und die nächsten Wahlen verlieren könnte?
A.L.: Tatsächlich ist es so, dass Regierungen in post-revolutionären Perioden die Tendenz haben, zu fallen wie die Fliegen, gewisse Parteien können gar ganz verschwinden. Wir werden Federn lassen müssen, das ist klar.
Doch die Leute haben uns gewählt, und wir müssen jetzt unsere Verantwortung wahrnehmen, auch auf die Gefahr hin, dass wir sämtliche Federn lassen müssen.
Nachdem die verschiedenen Kommissionen ihre vorbereitenden Arbeiten abgeschlossen hatten, sind nun die Diskussionen im Plenum der Verfassungsgebenden Versammlung im Gange.
Die Verfassungsgebende Versammlung sollte ihre Arbeiten Anfang 2013 abschliessen.
Danach sollen im Sommer die Präsidenten- und Parlamentswahlen stattfinden, danach die Wahlen auf Gemeindeebene.
Ali Laarayedh ist 1955 geboren.
Von 1981 bis zu seiner Verhaftung 1990 war er der Sprecher der Ennahda.
Laarayedh wurde vom Regime Zine Ben Ali zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Während seiner Inhaftierung wurde er gefoltert.
Das Regime von Präsident Ben Ali, der seit 1987 an der Macht war, wurde im Januar 2011 gestürzt.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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