Atommüll: Wird das Endlager in der Schweiz je so willkommen sein wie in Schweden?
Nach langen Jahren der Suche ist bekannt, wo in der Schweiz das Tiefenlager für atomare Abfälle hinkommt. Schweden ist einen Schritt weiter. Dort trägt die Mehrheit der lokalen Bevölkerung den Bau mit.
Die Entscheidung freut niemanden. «Habt ihr das Gefühl, wir hätten geklatscht, als wir es erfahren haben? Nein, gar nicht!», sagt Dieter Schaltegger, als am Informationsabend manche ihrem Ärger Luft machen. Erst ein paar Tage weiss der Gemeindepräsident da, was auf sein Dorf, auf die ganze Region Nördlich Lägern im Kanton Zürich zukommt: Der Schweizer Atommüll soll hierhin. Dieser Entscheid ist Mitte September 2022 gefallen. Bis er politisch definitiv ist, dauert es noch etwa 10 Jahre. Der Baubeginn des Tiefenlagers soll 2045 sein.
Das bewegt die Region – und die ganze Schweiz. Noch weiss niemand, ob auf dem Acker nahe der deutschen Grenze wirklich gebaut wird. Die Abklärungen laufen weiter. Fast 50 Jahre schon sucht die Nagra, kurz für Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, einen geeigneten Ort. Ein erster Plan in der Innerschweiz wurde einst in Volksabstimmungen versenkt.
Die Nagra habe gelernt, sagt deren Sprecher Patrick Studer. «Früher hat die Nagra zu wenig kommuniziert.» Das Resultat war: ablehnende Stimmung bei der lokalen Bevölkerung. Überall, wo es Probebohrungen gab. «Heute wissen wir, wie wichtig es ist, kritische Argumente ernst zu nehmen.» Die Nagra habe das auch von den «kommunikativen Vorreitern Schweden und Finnland» gelernt, wo es der Behörde gelungen sei, «viel Vertrauen» zu schaffen.
Vor Ort in Schweden
Schweden begann die Suche nach einem Standort einige Jahre nach der Schweiz – und ist ihr heute Jahrzehnte voraus. Seit 1992 gibt es ein Endlager für schwach- und mittelradioaktive Stoffe. Das Endlager für hochradioaktiven Müll nimmt 2035 in derselben Gemeinde den Betrieb auf.
In der Gemeinde Östhammar hat das Tiefenlager heute eine Zustimmungsrate von 84%. 39 von 49 Abgeordneten im Lokalparlament entschieden, dass es bei diesen Werten keine neue Volksabstimmung braucht. Denn Bedingung für die Zustimmung zum ersten Endlager war ein Vetorecht für jede Erweiterung. Den Verzicht auf eine Volksabstimmung hat Bürgermeister Jacob Spangenberg vorgeschlagen.
Spangenberg steht kritisch zur Atomkraft. Er gehört einer Partei an, die sich 1980 für den damals beschlossenen langsamen Ausstieg Schwedens aus der Nuklearenergie engagierte. Für Östhammar bedeutet das Tiefenlager, Verantwortung «für eine der wichtigsten Umweltfragen unserer Zeit» zu übernehmen, so Spangenberg. Falls Schweden aber doch wieder neue AKWs bauen würde, solle man sich anderswo um den Abfall kümmern. Die Zustimmungsrate Östhammars erklärt er sich damit, dass bereits das Atomkraftwerk in der Gemeinde eine gewisse Vertrautheit mit der Technologie geschaffen habe – aber auch durch den «langen und offenen Dialog».
Die Bevölkerung sei einfach müde, findet hingegen Åsa Lindstrand. Die Steuerexpertin gehört zu den wenigen Gegner:innen, die das Endlager bekämpfen. Natürlich müsse Schweden ein Tiefenlager für hochradioaktive Abfälle suchen, doch der Entscheid für Östhammar sei «unnötig schnell gefasst worden». Sie kritisiert die Methode der Einkapselung in Kupfer. «Diese Methode ist heute unter Fachleuten umstritten, unter anderem weil das Kupfer rosten kann.» Darum hätte Lindstrand trotz der hohen Zustimmungsrate eine Volksabstimmung gewollt.
Mitten in Östhammar steht das Informationszentrum der schwedischen Atomabfallbehörde. Dort stellt Kommunikationschef Simon Hoff klar, dass die von Schweden entwickelte Einkapselungsmethode bereits in Finnland im Einsatz ist: «Wir lernen von deren Umsetzung.»
Hoff betont, dass Östhammar über die «notwendigen geologischen Voraussetzungen» verfügt, aber habe «auch die Akzeptanz eines möglichen Standortes geprüft». Für den Ortsentscheid in Schweden sind politische Gründe ein Faktor gewesen.
Vor Ort in der Schweiz
Das schwedische Tiefenlager wird unter einer vorgelagerten Insel gebaut, 20 Kilometer von Östhammar entfernt. Der Acker, wo der Eingang des Schweizer Tiefenlagers errichtet werden soll, liegt nah an vielen Dörfern – auch solchen ennet der deutschen Grenze. Die deutsche Regierung hat bereits Diskussionsbedarf angemeldet. 20 Kilometer in die andere Richtung ist bereits der Flughafen Zürich, der grösste der Schweiz.
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Beim Acker steht ein Bauernhof, der auf den Nagra-Visualisierungen den Betriebsgebäuden gewichen ist. Die Besitzer:innen werden wohl gezwungen, ihr Land zu verkaufen. Die ganze Region muss mit den Effekten von 15 Jahren Grossbaustelle rechnen: Der Aushub aus der Tiefe sorgt für Lastwagenlärm.
Während in Östhammar die Aussicht auf Arbeitsplätze zur Zustimmung beiträgt, erwartet in der Schweiz kaum wer, dass die Arbeiter:innen aus der Region kommen. Zu nah ist die Grenze, zu attraktiv sind die Schweizer Löhne.
Bei der Standortbekanntgabe von Nördlich Lägern brachte «SRF» die Frage auf, ob die Wahl politische Gründe habe: Der Widerstand ist in Nördlich Lägern leiser als an anderen Orten in der engeren Auswahl. Die Nagra wies das von sich: An allen drei Standorten fand die Nagra Schichten von Opalinuston in der Tiefe vor. Das Feld aus diesem geologisch beständigen Material ist in Nördlich Lägern am grössten und am weitesten entfernt vom Wasser. «Die Geologie hat gesprochen.»
«Hier hat man die Demokratie ausgehebelt», sagt Werner Ebnöther. Der Informatiker in Rente gehört zu den Gegner:innen in Nördlich Lägern. Er erinnert daran, dass hier bereits in den 1980er-Jahren eine erste Probebohrung stattfand. Bei der nicht bindenden Volksabstimmung damals waren 104 Einwohner:innen dagegen – nur zwei dafür.
Lange glaubte die Region, davon gekommen zu sein: Über Jahrzehnte plante die Nagra den Bau eines Endlagers in der Zentralschweiz. Nachdem dort in zwei Abstimmungen eine Mehrheit dagegen war, strich der Bundesrat das Kantonsveto aus dem Gesetz.
In etwa zehn Jahren könnten die Schweizer:innen nun zwar abstimmen – aber eben im ganzen Land. Ebnöther ist sicher, dass alle anderen froh sind, wenn das Tiefenlager nicht «vor ihre Haustür» kommt. Daran, dass das Tiefenlager gebaut wird, hat er wenig Zweifel.
Ebnöther vertraut der Nagra. «Aber nicht zu 100%.» Deshalb will er weiterhin kritisch in der Begleitgruppe mitwirken und ein Auge auf die Sicherheit werfen, sowie auf neue Technologien, etwa zur Umwandlung des radioaktiven Mülls. «Wir schulden das den kommenden Generationen.» In der Begleitgruppe hat das Bündnis der Tiefenlager-Gegner:innen bereits vor dem Standortentscheid immer wieder Vorschläge durchgebracht.
Im Mammutmuseum einige Kilometer weiter läuft Andrea Weber über die am Boden markierten Erdzeitalter. Weber ist Co-Leiterin Sicherheit der Begleitgruppe. Auch sie spricht von Verantwortung. «100’000 Jahre kann sich niemand vorstellen. Sogar unsere Mammutzähne sind nur 45’000 Jahre alt.»
Als Weber erstmals hörte, dass das Tiefenlager in die Region kommen kann, habe sie das «pragmatisch» genommen, keine Abwehr. Doch sie erkannte gleich: «Wir müssen fragen, fragen, fragen.» Das Fragen sei Teil der Verantwortung. Seit etwa 10 Jahren existiert die Begleitgruppe, wo Behördenmitglieder und Vertreter:innen aus der Bevölkerung diskutieren, sich informieren und von Fachpersonen unterstützt Szenarien entwickeln. Sie soll weiter bestehen – womöglich steigt nun auch das Interesse zur Mitarbeit.
Vor dem definitiven Entscheid war das Bevölkerungsinteresse gering. In einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung 2018 gaben nur 8% in Nördlich Lägern an, dass sie ein mögliches Endlager in der Region «sehr bewegt».
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«Von Anfang an gab es in der Region mehr Akzeptanz als an anderen Orten», sagt Gemeindepräsident Dieter Schaltegger. «Wir vertrauen den Fachleuten, dass der Entscheid aus geologischen Gründen gefällt wurde», führt er aus. Ob er denn denkt, dass in zehn Jahren eine schweizweite Volksabstimmung den Bau stoppt? «Sie könnte nur verzögern und damit die Verantwortung für unseren Abfall an die nächste Generation schieben.» Er wolle nicht beschönigen, Kritik aufnehmen und das Gesuch kritisch begleiten.
Möglich, dass man in Nördlich Lägern irgendwann wie in Östhammar denkt.
Editiert von Mark Livingston.
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