Wird die Schweizer Demokratie besser, wenn der Zufall mitredet?
Wenn das Los entscheidet, können alle mitreden – auch Ausländer:innen und Jugendliche. Doch das Los entscheidet nicht über den Redeanteil. Notizen von einem Bürgerpanel in Thalwil, Kanton Zürich.
Der Saal ist die Aula eines Altenheims. «Ich weiss es nicht», sagt er, «Ich bin kein Experte, das ist meine Interpretation.» Der Redner ist betagt, doch die Zuhörer:innen sind diverser als jedes Parlament. Das Los hat 22 Leute ausgewählt, gewichtet nach Alter, Geschlecht, Ausbildung, politischer Einstellung: Sieben von ihnen haben keinen Schweizer Pass, jemand ist minderjährig. Gemeinsam ist ihnen der Wohnort Thalwil.
In der Gemeinde am Zürichsee wohnen 18’000 Menschen. Sie ist mehr Dorf als Stadt. Ein Lokalparlament gibt es nicht, über die Geschicke entscheidet die Gemeinderegierung aus acht Männern und einer Frau. Und nun also dieses neue demokratische Instrument: Das Bürgerpanel, das den Auftrag hat, über Klimaschutz im Lokalen zu diskutieren. Am Bürgerpanel verläuft die Diskussion anders als in der etablierten Politik: Selbstinszenierung gibt es kaum, Parolen gar keine, Wissenslücken werden offengelegt.
Thalwil ist die dritte und letzte Gemeinde im Kanton Zürich, die am Pilotversuch für Bürgerpanels teilnimmt. Bürgerpanels erleben gerade einen Hype – als Weiterentwicklung der Demokratie und zum Umgang mit der Klimaerwärmung. Unter anderem die radikale Klimaschutzgruppe Extinction Rebellion fordert sie immer wieder. Doch, wie viel Bürgerpanels bewirken, ist umstritten und von der Umsetzung abhängig.
In Frankreich setzte Emanuel Macron nach den Gelbwesten-Protesten ein Bürgerpanel ein. Es sollte Klimaschutzmassnahmen entwerfen, damit diese in der Bevölkerung Akzeptanz finden. Sein ursprüngliches Versprechen dessen Vorschläge «ohne Filter» zu prüfen, schwächteExterner Link Macron später ab. Weniger als die Hälfte der Vorschläge schaffte es ins Parlament.
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Auch der Pilotversuch im Kanton Zürich stösst nicht auf Euphorie, so beschrieb etwa die «Neue Zürcher Zeitung» die ersten beiden Panels als «pseudodemokratische Strukturen», die politisch kaum Wirkung zeigen würden.
Bei den ersten beiden Panels standen die Ausgelosten vor der offenen Frage, wie Klimaschutzmassnahmen im Lokalen aussehen könnten. Thalwil hat einen anderen Rahmen. Die Ausgelosten in der Altenheim-Aula befassen sich mit einem Plan des Gemeinderats. Parkplatzreduktion, Förderung von Elektromobilität oder der Ersatz von Ölheizungen: Das Bürgerpanel muss sich zu den Vorschlägen positionieren, so konkret und kompliziert wie sie sind. Am Ende erstellt das Panel einen Bericht. Ein Bericht, den der Gemeinderat lesen wird. Ein Bericht, der die Politiker:innen zu nichts verpflichtet.
«Als das Couvert mit der Einladung kam, dachte ich: Das ist meine Chance!», erzählt Katsia. Die 39-jährige Softwareentwicklerin darf sonst in der Schweiz politisch nicht mitreden. Und in ihrem Heimatland schon gar nicht. Katsia ist aus Belarus, wo seit knapp 30 Jahren der Autokrat Alexander Lukaschenko herrscht.
Ihr macht das Mitwirken am Bürgerpanel sichtlich Spass. Aber ob die Arbeit etwas bewirkt? Sie ist unsicher. «Ich hoffe, wir können die Distanz zwischen Gemeinde und Bevölkerung überwinden.» Dass Ausländer:innen mitmachen können, sei wichtig. «Unsere Meinungen sollen gehört werden, denn die Entscheidungen betreffen uns alle.» Es seien überhaupt nicht dieselben Leute hier wie an einer Gemeindeversammlung, wo Schweizer Stimmberechtigte über Gemeindethemen entscheiden. Zum Beispiel sei ja Nikash hier.
Der 16-jährige Gymnasiast ist der Jüngste – zu jung fürs Stimmrecht. Fast überall in der Schweiz ist man erst mit 18 politisch mündig. Nikash ist mit grosser Ernsthaftigkeit dabei: «Es geht um unsere Zukunft. Leute verschiedenen Alters sollen ihre Meinung vertreten. Darum bin ich hier.» Er lerne viel über die Mechanismen. Wie Politik funktioniert, werde in der Schule kaum besprochen. «Eigentlich fast nie.»
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Aus der grossen Gruppe gehen die Teilnehmer:innen immer wieder an die Tische, in Kleingruppen zurück, wo sie an ihren Argumenten zu einzelnen Teilen des Massnahmenplans feilen. An den Tischen sind die Gespräche offener, alle ergreifen das Wort. Dort kommt auch immer wieder die Frage auf: «Was bringt das hier eigentlich?»
Diese Frage bringt den Moderator Thomas Ghelfi auf Touren. «Ihr seid das Volk, ihr seht, was sie nicht sehen, ihr habt die Weisheit der Vielen», drängt er. Es sei ihre Aufgabe, Öffentlichkeit zu schaffen. Ein gut begründeter Bericht könne der Gemeinderat nicht ignorieren. «Die Frage, «Was passiert jetzt damit?» beschäftigt alle hier», sagt Ghelfi zu swissinfo.ch. Das sei die «Killerfrage» – an ihr entscheidet sich, ob die Teilnehmer:innen engagiert mitwirken oder resignieren.
Die «Killerfrage» stellt sich auch, weil die Teilnehmer:innen freiwillig ihre Freizeit opfern. Vier volle Wochenendtage lang. Sie wurden durch das Los ausgewählt, aber das Los zwang niemanden: 3000 Thalwiler:innen erhielten eine Einladung, gut 200 haben sich auf diese hin gemeldet. Aus diesen Interessierten loste ein wissenschaftliches Verfahren die Teilnehmer:innen aus.
Hannah meldete sich, weil sie das Format spannend fand. Der 35-jährigen Primarlehrerin begegnen politische Themen sonst bloss im Fernsehen oder im Abstimmungsbüechli. «Dann stehe ich immer vor der Frage, ja oder nein. Das ist die Grundfrage, die mir die Demokratie zur Verfügung stellt.» Im Bürgerpanel könne man hingegen «gefestigte Meinungen» überprüfen und anschliessend entscheiden, was man für sinnvoll hält.
Mit dem Diskutieren sei es aber nicht getan. Hannah will, dass «sich der Bericht am Ende so liest, dass das Papier lebendig wird». Der Bericht werde die Politik nicht «umstülpen», glaubt sie. «Ich erwarte, dass sich die Gemeinderegierung durchliest, was wir erarbeiteten und vielleicht auf einen neuen Punkt kommt.»
«Das, was wir hier tun, ist nur der Anfang», schaltet sich Alan ins Gespräch ein. Der 56-jährige Unternehmer ist aus politischem Antrieb hier. Er will der Gemeinde helfen, etwas fürs Klima zu tun. Alan ist Südafrikaner, in Thalwil lebt er seit sieben Jahren.
Die Aufgabe des Bürgerpanels sieht er als grosse Verantwortung. Aber er findet, dass sie echte Gestaltungsmacht bräuchten, damit sich die Arbeit wirklich lohnt. Und er will Kontrolle: «Sie sollten uns in einem Jahr nochmals einladen, damit wir überprüfen können, ob die Gemeinde den Nachhaltigkeitsplan in unserem Sinn umsetzt.» Eine schöne Idee – doch sie würde den Teilnehmer:innen noch mehr Zeit abverlangen.
Für ihr Engagement erhalten die Teilnehmer:innen eine finanzielle Entschädigung von 150 Franken pro Tag. Dieser Betrag ist nicht auf dem Niveau eines Schweizer Lohns, aber trotzdem eine Summe, die besonders für finanziell Schwache einen Unterschied macht.
Hannah und Alan finden beide, ihr Einsatz sei den Aufwand wert. Das Panel wirke wie ein Gegengift zur Spaltung, welche die sozialen Medien ihrer Meinung nach bewirken. Tatsächlich ist manches an den Tischen kontrovers. Doch es scheint niemand da zu sein, der die menschgemachte Klimaerwärmung leugnet.
Am Bürgerpanel gibt es keine populistischen Parolen, die sonst Politik prägen. Trotzdem seien auch die politischen Pole gut vertreten. «Es kommen auch Leute mit starken Positionen», sagt Andri Heimann vom Zentrum für Demokratie Aarau, der Projektleiter des Bürgerpanels. Aber jene, die sich als Klimaleugner verstehen oder am Thema nicht interessiert sind, seien «wahrscheinlich ein wenig weniger vertreten als in der Bevölkerung».
Den Bürgerpanels liegt ein anderes Demokratieverständnis zugrunde, so der Politologe Heimann. «Anstatt parteipolitische Machtspiele oder das Ringen um knappe Mehrheiten steht die Suche nach Gemeinsamkeiten und breit abgestützten Lösungen im Fokus.» Deshalb seien sie international in repräsentativen Demokratien stark im Aufwind. Auch in der Schweiz, mit ihren vielen demokratischen Instrumenten, sieht Heimann solche Panels als Mehrwert. «Bürgerpanels ermöglichen es, die Bevölkerung bereits früh im politischen Prozess einzubinden und abzuholen.» Das stärke die Meinungsbildung und die vertiefte Auseinandersetzung vor einer Volksabstimmung.
Das Los bindet in Thalwil auch Menschen ein, die sonst nicht mitbestimmen dürfen. Ob ihre Stimmen Wirkung zeigen, muss offen bleiben. Nicht nur, weil unklar ist, was der Bericht politisch bewirkt. Sondern auch, weil in der Altenheim-Aula einzelne betagte Herren sehr viel Raum einnehmen. Einige, die nicht perfekt Deutsch sprechen, ergreifen nur selten das Wort. Der Redner, der sagt «Ich bin kein Experte», redet sehr lang.
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In einer früheren Version dieses Artikels hiess es fälschlicherweise, dass die Teilnehmer:innen ohne Entschädigung diskutieren. Nach einem Hinweis wurde das entsprechend korrigiert.
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