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Lässt die Genfer Anziehungskraft auf Unternehmen und Fachkräfte nach?

Aerial view of Geneva
Rund 130 multinationale Unternehmen haben einen Hauptsitz in Genf. © Keystone / Leandre Duggan

Einige multinationale Unternehmen aus den USA und Japan haben kürzlich in Genf einen Stellenabbau angekündigt. Sind dies erste Zeichen für neue Entwicklungen auf dem lokalen Arbeitsmarkt? Die Experten sind sich uneinig.

Kürzlich warnte der Leiter der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer (Amcham), Martin Naville, in Medienberichten, der Kanton Genf habe Schwierigkeiten, neue US-Firmen anzusiedeln. Er wies auf einen Stellenabbau bei den multinationalen Unternehmen aus den USA in den letzten zehn Jahren hin. Dies sei zum Teil auf «neue Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem politischen Klima in der Schweiz» sowie auf die starke Konkurrenz aus Ländern wie den Niederlanden und Irland zurückzuführen.

Im vergangenen Monat kündigten auch Japanese Tobacco International (JTI) und der US-Kosmetikspezialist Coty, den Abbau von Arbeitsplätzen in Genf an.

Die hohen Kosten in der Schweiz sind eindeutig eine Herausforderung für grosse ausländische Unternehmen, sagt Sjoerd Broers, Geschäftsführer von Auris Relocation.

«Unternehmen entlassen Mitarbeitende unter Kostendruck. In Genf sind die Kosten relativ hoch», sagt er und fügte hinzu, dass die Verhältnisse in Zürich ähnlich seien.

«Für bestimmte Jobs ist es nicht mehr sinnvoll, in der Schweiz zu bleiben.»

Der Genfer Wirtschaftsminister Pierre Maudet sieht es anders. Er wies Navilles Behauptungen zurück und spielte die Ankündigungen herunter.

«Das sind Einzelfälle, die auf unterschiedlicher Logik und Bedürfnissen basieren», sagt er gegenüber swissinfo.ch und fügt hinzu, dass JTI und Coty ihre engen Beziehungen zu Genf bekräftigt hätten.

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Guillaume Blanchin, Direktorin des Stellenvermittlers Robert Walters Switzerland, sagt, dass die Entscheidung von Coty, zwei Drittel seiner Mitarbeitenden in Amsterdam zu konzentrieren, komplex sei und nicht nur aus finanzieller Optik betrachtet werden dürfe.

Er wies auch die Behauptung zurück, Genf habe Probleme, neue US-Unternehmen anzuziehen.

«In den letzten Jahren haben die Unternehmen die Entscheidungszentren zurück in die USA verlagert, was in Genf zu weniger Autonomie und einer Redimensionierung der Finanzstellen geführt hat», sagt er. 

Neuankömmlinge

Gemäss den jüngsten Wirtschaftsförderungszahlen bleibt die Region Westschweiz ein attraktives Ziel für neue ausländische Unternehmen – wenn auch in geringerem Umfang als in der Vergangenheit. Im Frühling dieses Jahres meldete der Westschweizer Standortförderer Greater Geneva Bern AreaExterner Link (GGBa) 92 neue Unternehmen, darunter viele Start-ups, die sich 2018 in der Region niederliessen.

«Es gibt immer noch Unternehmen, die sich hier niederlassen und entwickeln», sagt Julien Gibert, Geschäftsführer der Genfer Niederlassung der Unternehmensberatungsfirma Michael Page. «Aber nicht im gleichen Ausmass wie vor zehn bis fünfzehn Jahren, als multinationale Unternehmen mit 200 Personen ankamen. Sie kommen jetzt mit zehn Leuten, rekrutieren dann zehn weitere und fünfzehn im folgenden Jahr.» 

Und Wirtschaftsminister Maudet verweist auf Hewlett Packard, Facebook und Microsoft, die sich für die Entwicklung neuer digitaler Projekte für den Standort Genf entschieden hätten.

Es sei zu hoffen, dass die Entscheidung von Facebook, einen Teil seines Libra-Kryptowährungs-Projekts in der Stadt zu etablieren, den Bekanntheitsgrad der Region im Bereich der Blockchain-Technologie erhöhen werde. 

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Wo sind die Fachkräfte?

Auf makroökonomischer Ebene hat sich das Wachstum der exportorientierten Schweizer Wirtschaft verlangsamt. Es liegt im laufenden Jahr bei lediglich 0,8%. Fürs nächste Jahr rechnen die Wirtschaftsprognostiker mit 1,7%, weil die hiesige Wirtschaft dem globalen Handelsdruck standhalten werde.

Wie auch immer, die nationale Arbeitslosenquote gehört nach wie vor zu den niedrigsten in Europa. Im vergangenen Jahr fiel sie auf 2,5%, den niedrigsten Wert seit 2002, und lag im Juli dieses Jahres bei 2,1%. Unter den Kantonen wies Genf mit 3,8% die höchste Arbeitslosenquote auf.

Die meisten lokalen Personalvermittler, die swissinfo.ch kontaktierte, beurteilen den Arbeitsmarkt als dynamisch, vielversprechend und entwicklungsfähig. Das Problem sei die Suche nach den richtigen Talenten, insbesondere für Führungskräfte, Ingenieure, Techniker und IT-Spezialisten.

Im Vergleich zum Vorjahr sei der Fachkräfte-Mangel etwas geringer, sagt Blanchin vom Personalvermittler Robert Walters Switzerland.

Gemäss dem aktuellen Swiss Job IndexExterner Link von Michael Page nahm das Stellenangebot für Fachkräfte nach den Sommerferien im ganzen Land gegenüber dem Vorjahr um 20% zu, in der Genfersee-Region um 19%. 

«Der Handel ist wieder da»

Rund 60% des Genfer Steueraufkommens stammen aus den Bereichen Uhren-, Finanz- und Rohstoffhandel.

Ab 2009 traf die Aufhebung des Schweizer Bankgeheimnisses den prosperierenden Finanzsektor hart. In Genf ist die Zahl der Banken im letzten Jahrzehnt um ein Viertel zurückgegangen. Die Schweiz ist jedoch nach wie vor das weltweit grösste Vermögensverwaltungszentrum für internationale Vermögen.

In Genf ist es allerdings im Moment schwierig, eine Stelle im Finanzbereich zu bekommen.

«Wenn Sie heute eine Finanzanalysten-Stelle ausschreiben, erhalten Sie in einer Woche 100 bis 200 Bewerbungen», sagt Nicolas Lutter, Geschäftsleiter der Nordwand GroupExterner Link, einem Vermittler von Finanz- und Führungskräften in Genf. «Andererseits erhalten IT-Mitarbeiter jeden Monat vier oder fünf Angebote. Wenn sie die Stelle wechseln wollen, müssen sie nur auf den Knopf klicken.»

Genf ist auch ein wichtiger Handelsplatz für Rohstoffe. Unternehmen wie Trafigura und Vitol kommen für rund 22% der Steuereinnahmen des Kantons auf.

Unterschiedliche Signale kommen aus dem Agrarhandel. Während das US-Agrarunternehmen Bunge kürzlich bekannt gab, dass es im Rahmen seiner globalen Umstrukturierung ein Dutzend Getreidehändler in Genf entlassen habe, um Kosten zu senken und das Marktrisiko zu reduzieren, meldete Total SA, dass es rund 200 Strom-, Gas- und Flüssiggashändler (LNG) von London und Paris nach Genf verlagert habe, wo bereits 300 Mitarbeitende tätig sind.

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«Der Handel ist wieder da und hat sich im vergangenen Jahr gut entwickelt. Es kommen neue Unternehmen hinzu, was vor zwei bis vier Jahren noch nicht der Fall war», sagt Gibert.

Welchen Einfluss hatte die Unternehmens-Steuerreform, die das Stimmvolk Anfang des Jahres gutgeheissen hatte, auf diese Entwicklung? Viele Kantone haben ihre Unternehmenssteuersätze generell gesenkt, um die abgeschafften Vergünstigungen für multinationale Unternehmen, die Niederlassungen und Tochtergesellschaften in der Schweiz haben, zu kompensieren. In Genf wurde der Einkommenssteuersatz für Unternehmen von 24,2% auf 13,99% gesenkt.

Es ist noch zu früh, um zu sagen, welche Auswirkungen diese Steueränderung haben wird, aber manche Beobachter sind optimistisch. Die Unsicherheit im Zusammenhang mit der Unternehmenssteuerreform habe in der Vergangenheit dazu geführt, dass manche Investitionsentscheidung der Unternehmen auf die lange Bank geschoben wurde, sagt Broers.

«Aber diese Unsicherheit ist jetzt weg, also sollten wir wieder Bewegung sehen. Es gibt einige Anzeichen dafür, aber das braucht Zeit», sagt der Experte für Standortfragen.

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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