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Wladimir Kara-Mursa: «Veränderungen kommen in Russland oft plötzlich»

Kara-Murza
Der Politiker Wladimir Kara-Murza befindet sich seit dem Frühling in Haft in Russland. swissinfo.ch

Wie wirksam sind die Sanktionen gegen Russland? Welche Rolle spielt die Schweiz im Krieg gegen die Ukraine? Unsere Gespräche mit russischen Putin-Gegnern: Im vierten Teil redet Wladimir Kara-Mursa.

Die Schweiz spielt eine wichtige Rolle, wenn es um russische Vermögenswerte und Rohstoffe geht. Sie darf sich nicht hinter ihrer Neutralität verstecken, sondern sollte aktiv dazu beitragen, dass dem russischen Kriegsregime die Ressourcen ausgehen: Das ist die einhellige Meinung aller Meinungsführer der russischen Opposition, die wir befragt haben.

Für diese Interviewreihe haben wir die wichtigsten Stimmen kontaktiert, die sich gegen den Kreml aussprechen. Die meisten von ihnen mussten deshalb das Land verlassen: Putin-Gegner Garry Kasparov lebt jetzt in Kroatien, der Unternehmer Leonid Nevzlin in Israel, und Star-Ökonom Sergei Guriev floh nach Frankreich. Der Putin-Kritiker und Wirtschaftswissenschaftler Sergej Aleksaschenko lebt in Washington.

Wladimir Kara-Mursa war ein Gefährte des in Moskau ermordeten Boris Nemzow. Seit 2014 arbeitete er für Open Russia, eine Stiftung des Kremlkritikers Michail Chodorkowski. 2015 und 2017 wurden Gift-Anschläge auf ihn verübt, laut international geführten Recherchen wohl vom russischen Inlandgeheimdienst. Seit Mai 2022 ist Kara-Mursa in Russland inhaftiert, aus Motiven, die Beobachter für konstruiert halten. Seine Frau und seine drei Kinder leben in den USA.

swissinfo.ch: Herr Kara-Mursa: Was kann der Westen tun, damit dieser Krieg mit Putins Niederlage endet?

Wladimir Kara-Mursa: Im Westen wird heute viel über die «kollektive Verantwortung» der Russen für Putins Aggression in der Ukraine gesprochen. Aber die Idee der «kollektiven Verantwortung» ist falsch, insbesondere aus der Sicht jener von uns, die heute im Gefängnis sitzen, weil sie öffentlich gegen den Krieg Stellung bezogen haben. Vergessen wir nicht: In den Tagen nach dem 24. Februar wurden mehr als 16’400 Menschen bei Antikriegskundgebungen verhaftet.

Aber vergessen wir auch nicht die westlichen Staats- und Regierungschefs, die jahrelang die Augen verschlossen gegenüber der Verletzung von Menschenrechten und demokratischen Grundsätzen in Russland. Sie pflegten ihre Freundschaften mit Putin. Sie sahen ihm in die Augen und konnten dort – wie George W. Bush «ein Gefühl für seine Seele bekommen». Sie luden ihn zu Besuchen und Gipfeltreffen ein und gaben seinem Regime damit internationale Glaubwürdigkeit. Die westlichen Staats- und Regierungschefs, die eine Beschwichtigungspolitik gegenüber Putin betrieben, tragen einen grossen Teil der Verantwortung für das, was heute in der Ukraine geschieht.

Wie kritisch sehen Sie die Rolle der Schweiz?

Man liess es zu, dass Putins Funktionäre und Oligarchen westliche Länder nutzen konnten, von denen die Schweiz als europäisches Bankenzentrum nicht das unbeliebteste war. Sie konnten dort Geld horten, das den russischen Steuerzahlern gestohlen wurde. Die Leute im Kreml und in dessen Umfeld haben es sich seit langem zur Gewohnheit gemacht, in Russland zu stehlen und im Westen auszugeben. Die demokratischen Länder, die den zweiten Teil zuliessen, wurden zu Komplizen.

Besonders deutlich wurde dies am Beispiel des «Sergej-Magnitski-Gesetzes», das individuelle Finanz- und Visasanktionen für Mitglieder des Putin-Regimes vorsah, die an Korruption und Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Ich habe in den letzten Jahren viel Zeit damit verbracht, in verschiedenen Ländern für «Magnitsky-Gesetze» zu werben. Wir stiessen bei vielen westlichen Politiker:innen, hohen Beamten und Diplomatinnen dabei auf heftigen Widerstand.

Dank Parlamentsmitgliedern, die Haltung zeigten, konnten solche Gesetze aber in mehreren Ländern Europas und Nordamerikas verabschiedet werden. Als Russland den Krieg in der Ukraine begann, hatten jedoch viele europäische Länder noch kein solches Gesetz, darunter auch die Schweiz. Und das, obwohl ein Schweizer Abgeordneter, Dick Marty, in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Sonderberichterstatter für die Sergej Magnitski-Sache war.

Wurde hier eine Chance verpasst?

Ich bin sicher, dass wir uns heute nicht in dieser schrecklichen Situation befinden würden, wenn wir damals auf die Vertreter der russischen Opposition gehört hätten, insbesondere auf Boris Nemzow. Er rief nach individuellen Sanktionen gegen Funktionäre des Putin-Regimes. Wären diese beschlossen worden, sähe heute vieles anders aus.

Ermordung von Boris Nemtsow
Tatort Moskau: Am 28. Februar 2015 wird Oppositionspolitiker Boris Nemtsow auf offener Strasse erschossen. Keystone / Pavel Golovkin

Aber wie kommen wir heute aus dieser Situation raus?

Entscheidend ist: Die westlichen Länder dürfen nicht zulassen, dass Putin und sein Regime ihr Gesicht wahren können. Sonst werden wir in ein oder zwei Jahren über einen neuen Krieg an einem anderen Ort reden.

Man muss verstehen, dass die einzige Lösung für die derzeitige Krise ein Wandel in Russland ist: Absetzung des Putin-Regimes, eine neue demokratische Regierung, die die Rechte ihrer Bürger achtet und sich in den internationalen Beziehungen zivilisiert verhält. Dabei steht fest: Nur die russische Gesellschaft kann einen solchen Wandel herbeiführen.

Wie weit ist das noch entfernt?

Veränderungen in Russland kommen oft plötzlich und unerwartet, so wie 1905, 1917 oder 1991. Wir müssen heute schon an morgen denken. Putins Regime ist nicht für die Ewigkeit, und nach seinem Ende ist es wichtig, dass Demokratie und eine freie Wirtschaft wiederhergestellt werden. Russland muss wieder in die europäischen Strukturen und in die internationale Gemeinschaft integriert werden. Ich glaube immer noch an das Ideal eines freien, geeinten und friedlichen Europas. Das wird aber nur möglich, wenn ein freies, demokratisches Russland daran teilnimmt.

Der Schweizer Europarats-Abgeordnete Damien Cottier sagte im März im Europarat: «Wenn Russland heute den Europarat verlässt, weil seine Regierung es fernhält, müssen wir dafür sorgen, dass es eines Tages zurückkehren kann. Denn Europa ist seine Heimat und seine Geschichte.»

Das Interview wurde schriftlich geführt.
Editiert und ins Deutsche übersetzt von Balz Rigendinger

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