Wölfe und Immigranten: Abstimmungen der Angst
Begründete Ängste sind eine Voraussetzung für das Überleben. Der Politikwissenschaftler Daniel Warner fragt sich am Beispiel der bevorstehenden Schweizer Abstimmungen über Wölfe und die Personenfreizügigkeit, wann eine Angst begründet ist.
Ich wurde einmal gebeten, in einer Stadt in den Schweizer Alpen einen Vortrag zu halten zum Thema Sicherheit. Zunächst erzählte ich, wie viele Schlösser ich an meiner Wohnungstür hatte, als ich in New York lebte.
Ich erzählte Geschichten darüber, wie furchteinflössend es für mich war, nachts mit der U-Bahn zu fahren. Für meine Geschichten erntete ich nur ratlose Blicke. Die meisten meiner Zuhörer schlossen weder ihre Häuser noch ihre Autos ab. Und U-Bahnen gibt es in der Schweiz auch nicht.
Doch dann erwähnte ich ihre Angst vor Wölfen. Was würde ihre Lokalzeitung – La Nouvelliste – ohne das Titelbild eines gesichteten Wolfes oder den ausgeweideten Kadaver eines armen Schafes tun? Wie viele Stunden hat das Schweizer Fernsehen damit verbracht, herumstreunende Wolfsrudel und ausgeweidetes Vieh zu zeigen? Das haben sie alle verstanden.
Warum waren meine Zuhörer von Wölfen so fasziniert? Hatten sie wirklich Angst vor ihnen? Die Möglichkeit, dass sich ein Wolf in die Stadt verirrt, ist unrealistisch. Nein, der Wolf war zu einem Symbol geworden, zu etwas Exotischem, das Anlass zur Angst gab. Etwas Ungewöhnliches war in diesem Teil der Schweiz, dem Kanton Wallis, zum Mythos geworden. Etwa wie der grosse böse Wolf in Rotkäppchen. Oder auch der Wolf in Sergej Prokofjews symphonischem Märchen Peter und der Wolf, wo das Ende wie das Quaken einer Ente im Bauch des Wolfes klingt.
Am 27. September wird in der Schweiz über eine Revision des Jagdgesetzes abgestimmt, und damit über eine teilweise Herabstufung des Schutzstatus des Wolfes.
Auf dem Stimmzettel steht auch die Initiative zur Begrenzung der Einwanderung. Gemäss den Initianten riskieren Schweizer Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn der Freizügigkeitsvertrag zwischen der Europäischen Union (EU) und der Schweiz nicht gekündigt wird. Ist das vernünftig?
Gemäss offiziellen Statistiken hat sich die Differenz zwischen der Zahl der Personen, die in die Schweiz eingewandert sind, und derjenigen, die das Land verlassen haben, seit 2013 deutlich verringert. Im vergangenen Jahr betrug der Wanderungssaldo nur 32’000 Personen. Gegenwärtig leben rund 500’000 Schweizerinnen und Schweizer in einem EU-Land.
In Genf – einer sehr internationalen Stadt – ist etwa jeder fünfte Arbeitsplatz in Schlüsselsektoren wie dem Gesundheitswesen und dem öffentlichen Verkehr durch eine Person ohne Schweizer Pass besetzt. Ein noch höherer Prozentsatz an Ausländer arbeitet im örtlichen Krankenhaus. Ist es sinnvoll, ausgerechnet während einer Pandemie die etwa 4.500 Krankenschwestern und Krankenpfleger einzuschränken, die täglich aus Frankreich über die Grenze kommen?
Begründete Angst ist eine Voraussetzung für das Überleben. Doch wann ist eine Angst begründet? Früher hatten die Amerikaner Angst vor einer Invasion der Sowjetunion. Einen grossen Teil meiner frühen New Yorker Kindheit verbrachte ich damit, Sirenen zu lauschen, die vor einem bevorstehenden Angriff warnten. Und auf Kommando unter den Schreibtisch zu tauchen, um auf diese Invasion vorbereitet zu sein. (Später erfuhr ich, dass in Moskauer Schulen die gleichen Übungen stattfanden).
Heute spielt US-Präsident Donald Trump mit den Ängsten seiner Landsleute vor einer Invasion von Migranten aus Lateinamerika (Stichwort: «Build that Wall»). Trump nennt die Demonstranten auf der Strasse Anarchisten oder Kommunisten. Corona nennt er vorzugsweise das chinesische Virus – wie vor über 100 Jahren die USA und Europa unter dem Begriff der gelben Gefahr Ressentiments gegen ostasiatische Völker zu schüren versuchten. Ob Anarchisten, Kommunisten, Schwarze oder Asiaten, Trump spielt mit der Angst.
Wir sind alle auf die eine oder andere Weise verunsichert. Wir alle haben Ängste. Demagogen spielen mit diesen. Wolfsgeschichten verkaufen Zeitungen und gefallen den Nachrichtensendern. Bilder von Ausländern, die den Schweizern die Arbeitsplätze wegnehmen, spielen mit den Ängsten vor Arbeitslosigkeit – wenn nicht gar dem Verlust der Schweizer Identität. Diese Ängste können unser Abstimmungsverhalten beeinflussen.
Ich werde versuchen, am 27. September so vernünftig wie möglich zu sein. Ich werde versuchen, meine irrationalen Ängste zu kontrollieren. Ich werde versuchen, diejenigen zu ignorieren, die mit diesen Ängsten spielen. Ich werde die Frage der Jagd mit einem Lächeln beantworten. So wie ich gelächelt habe, als ich 2018 darüber abstimmte, ob Landwirte zusätzliches Geld vom Staat erhalten sollen, wenn sie die Hörner ihrer Rinder wachsen lassen. Ein Lächeln ist sicherlich Ausdruck einer positiveren Emotion als Angst.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
(Übertragung aus dem Englischen: Mischa Stünzi)
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