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Zielscheibe Demokratie

Der Terror ist nun auch im Ursprungsland des "Arabischen Frühlings" angekommen. AFP

Nach dem tödlichen Anschlag in Tunis ist sich die Schweizer Presse einig: Ziel des Angriffs war die erstarkende Demokratie im Land. Für einige Kommentatoren besteht die Gefahr, dass in der Region wieder autoritäre Herrschaften entstehen könnten und der "Arabische Frühling" definitiv zu Grabe getragen wird.

Die Bilanz nach dem Attentat mit Geiselnahme im tunesischen Nationalmuseum Bardo vom 18. März ist bitter: Die Terroristen töteten nach Angaben der tunesischen Behörden 23 Menschen, darunter 20 ausländische Touristen. Zwei Angreifer wurden von Sicherheitskräften getötet.

Nun fahnden die tunesischen Behörden nach zwei bis drei möglichen Komplizen der beiden Attentäter. Es bestehe die «Möglichkeit», dass ihnen geholfen worden sei, sagte Regierungschef Habib Essid.

«Jetzt nicht auch noch Tunesien!», schreiben die Aargauer Zeitung und die Neue Luzerner Zeitung. «Tunesien war der Anfang des ‹Arabischen Frühlings›. Anders als Ägypten, Libyen, Jemen und Syrien hat die Nation mit ihren elf Millionen Einwohnern ihren Weg in die Demokratie bisher ohne Bürgerkrieg und ohne Militärputsch gemeistert.»

Mit Kompromissen zwischen dem säkularen und dem religiösen Lager habe es das Land geschafft, eine Verfassung zu verabschieden, mit der alle leben könnten. «Die Menschen sind gebildet, die Zivilgesellschaft ist stark und gut entwickelt.»

Und auch die Terrorgruppen im Land schienen unter Kontrolle zu sein: «1500 Extremisten wurden festgenommen, zahlreiche Rekrutierungsbüros des ‹Islamischen Staates› geschlossen und die Kontrolle über die meisten radikalen Moscheen zurückgewonnen. Letzten Oktober wählten die Bürger dann ihr erstes reguläres demokratisches Parlament, im Dezember bestimmten sie mit Beji Caid Essebsi das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt ihrer Geschichte.»

Doch nun drohe der Terroranschlag im Herzen der Hauptstadt «auch diese letzte Bastion der Hoffnung in den destruktiven Abwärtsstrudel der arabischen Welt hineinzuziehen». Tausende junge Menschen liessen sich von der Ideologie der Dschihadisten in den Bann ziehen, «während daheim Arbeitslosigkeit, Armut und Misere wachsen».

«Für Tunesiens Führung wird es jetzt entscheidend darauf ankommen, trotz der schrecklichen Bluttat nicht die Nerven zu verlieren und besonnen zu reagieren. Sonst könnte der Arabische Frühling ausgerechnet in Tunesien auch sein Ende finden.»

Präsentierteller für Terror

Bereits «das Ende des Frühlings» erkennen der Tages-Anzeiger und Der Bund. «So furchtbar das Attentat im Museum von Tunis wegen der hohen Opferzahl ist, so absehbar war es auch. Mehr noch: Es war beinahe schon zwingend», heisst es in deren Kommentar.

Islamistische Terroristen würden ihre Bühne gegenwärtig fast überall dort finden, wo sie eine suchten. Beliebt seien Orte wie etwa Botschaften, Flughäfen, Einkaufszentren, Museen, Tempelruinen, wo sich viele Ausländer aufhielten. «Wer geglaubt hat, Tunesien als das angeblich erfolgreiche, demokratische Vorbildland des ‹Arabischen Frühlings› bilde da eine überlebenssichernde Ausnahme, hat sich getäuscht oder etwas vorgemacht.»

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Als klassisches Reiseland mit dem berühmten Museum und dem Parlament mitten in einer Stadt, die durch eine «unzuverlässige und wenig motivierte Polizei» nur ungenügend geschützt werde, «ist in der Terrorlogik der Jihadisten der nächste Schritt nicht weit».

Bittere Lehre

Für das Land und seine Menschen seien die Schiesserei vor dem Parlament und die Geiselnahme im Museum von Tunis «eine kaum abzuschätzende Katastrophe. Die tunesische Regierung wird das Terrorproblem nicht von heute auf morgen in den Griff bekommen».

Die Tourismusbranche allerdings werde sofort reagieren. Während ein bis zwei Jahren würden wohl kaum mehr viele Reisende das Land besuchen. «Für einen Staat mit den wirtschaftlichen Problemen Tunesiens, der alle Einnahmen aus dem Tourismus dringend braucht, ist das ein Desaster.»

Die Lehren daraus sind für Tagi und Bund bitter. «Jeder kann jetzt erkennen, dass der sogenannte Arabische Frühling gescheitert ist und die Region auf Jahre hin sehr instabil bleiben wird. Die erhoffte Demokratisierung in den Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas, die sich 2011 als reale Möglichkeit abzuzeichnen schien, wird in absehbarer Zeit ganz sicher nicht stattfinden.»

Zur Eröffnung der Sitzungen haben die beiden Ratspräsidenten des Schweizer Parlaments am Morgen nach dem Anschlag in Tunis folgende Aussagen gemacht.

Claude Hêche, Präsident Ständerat:

«Die Barbarei hat wieder zugeschlagen. Unschuldige starben gestern in den Kugeln von Terroristen. Nicht nur Tunesien wurde im Herzen getroffen, wir sind alle betroffen. Überall auf der Welt müssen Völker und Demokratien gegen den Terrorismus unterstützt werden. Ich möchte in meinem und im Namen des Ständerats unsere Ergriffenheit und unsere Unterstützung des tunesischen Volkes und der Behörden ausdrücken.»

Stéphane Rossini,  Präsident Nationalrat:

«Ich denke ergriffen an die Opfer der Ereignisse von gestern in Tunesien. Im Herzen dieses Landes, das daran ist, seinen demokratischen Übergang erfolgreich abzuschliessen, und in dem zur selben Zeit die Parlamentarier ein Antiterror-Gesetz berieten, hat die Gewalt einmal mehr zugeschlagen und getötet. Ich wünsche hier mit Ihnen, in meinem und in Ihrem Namen, solidarisch zu sein und den tunesischen Behörden unsere Unterstützung auszusprechen. Es ist in der Tat wichtig, dass diese junge Demokratie sich unterstützt fühlt und wird. Wir tun das, indem wir terroristische Akte vorbehaltlos verurteilen. In der arabischen Welt steht Tunesien für eine echte Hoffnung auf Frieden und Demokratie. Solche barbarische Taten dürfen nicht untergraben, was dieses Land und seine Menschen bisher geschafft haben.»

Die Folge des islamistischen Terrors: «Die neuen Regierungen finden so die politische Rechtfertigung für die Wiedereinführung der autoritären Herrschaft – alles im Kampf gegen den Terror.»

Attacke auf das Herz

«Tunesien wankt, wird aber nicht fallen», titelt die Westschweizer Tageszeitung Le Temps. «Gestern ratterten die sozialen Medien nur so von Aufrufen zum nationalen Zusammenhalt. Der Rest der Welt muss dem Land sein Vertrauen aussprechen, und es wird wieder aufstehen. Mit derselben Entschlossenheit und Intelligenz, die es seit den Tagen der Revolution gezeigt hat.»

Mit dem Bardo-Museum hätten sich die Attentäter ein symbolträchtiges Ziel ausgesucht. «Dieses prächtige Konservatorium der gesamten historischen Hinterlassenschaften, die das reiche Erbe Tunesiens ausmachen, und den meistbesuchten Ort im Land.»

Der Anschlag sei nicht einfach irgendwo verübt worden, schreiben auch die Tribune de Genève und 24 heures, sondern «im Herzen von Tunis, in einem Leuchtturm-Museum der Geschichte der Zivilisationen und neben einem frei und frisch gewählten Parlament, einem Symbol für die demokratischen Fortschritte des Landes».

Die Regierung fürchte nun um ihren Wirtschaftsmotor, den Tourismus. «Doch diese einzelne Branche bietet nur ein wenig Beschäftigung.» Der Kommentator kommt zum Schluss: «Tunesien bezahlt vielleicht auch den Preis für die unvollendete Revolution.»

Gefährdete Demokratie

Als «Anschlag auf die Demokratie» bezeichnet die Neue Zürcher Zeitung den Terrorakt. Ausgerechnet über das Anti-Terror-Gesetz hätten die Abgeordneten im Parlament gleich neben dem Nationalmuseum zur Zeit des Anschlags debattiert.

«So ist nun auch in Tunesien eingetreten, was lange befürchtet wurde und in den Nachbarländern fast zum Alltag gehört. Zum ersten Mal haben Terroristen direkt Zivilisten angegriffen. Dass unter den Opfern 17 ausländische Touristen sind, trifft einen empfindlichen Nerv des Landes.»

Tunesien, in dem der «Arabische Frühling» seinen Anfang genommen habe, «gilt als Musterland der Demokratie in der Region». Das Land habe sich innert dreier Jahre eine moderne Verfassung gegeben und einen Präsidenten gewählt. «Doch auch die demokratische Läuterung des politischen Islam kann offenbar nicht verhindern, dass Tunesien zum Ziel von Dschihadisten wird.»

Besonders aus Syrien und dem Irak zurückkehrende Gotteskrieger seien ein Problem für die Sicherheitslage. «Zwar beteuert das Innenministerium, man habe bereits mehrere tausend Tunesier von der Ausreise abgehalten und beobachte die Heimkehrer genau. Doch angesichts von etwa 3000 IS-Kämpfern mit tunesischem Pass sind die kampferprobten Islamisten eine akute Gefahr für das Land.»

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