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“Israel kann nicht als Antwort auf alles gelten”

Gala Zionistenkongress Basel
Szene vom Gala-Event zum Abschluss der Jubiläumskonferenz swissinfo.ch

Yves Kugelmann ist Chefredaktor des jüdischen Wochenmagazins "tachles". Er schildert seine Sicht auf das 125-Jahr-Jubiläum des ersten Zionistenkongresses – und erzählt vom Übergriff gegen ihn an der Palästina-Demo.

swissinfo.ch: Die “Jerusalem Post” schreibt, das 125-Jahr-Jubiläum des ersten Zionistenkongresses sei ein Anlass, wie keiner in den letzten Jahrzehnten. Wie sehen Sie das?

Yves Kugelmann: Naja. Zum einen stimmt das, aus Sicht der einladenden Festorganisation, und zum anderen muss man auch die übergreifenden Fakten festhalten: Bis Montagmorgen und dem Staatsbesuch von Präsident Jitzchak Herzog in der Schweiz gab es in Israel keine einzige Zeile zum Jubiläum.

Das folgt auch der Logik einer israelischen Wirklichkeit, die sich für den historischen Zionismus wenig interessiert. Sie befasst sich mit bevorstehenden Wahlen und innenpolitischen Debatten. Das ist Zionismus für die Israelis. Weniger Herzl oder Basel.

Yves Kugelmann
Yves Kugelmann ist Eigentümer der “JM Jüdische Medien AG” und dort unter anderem auch Chefredaktor des Schweizer Wochenmagazins “tachles”. swissinfo.ch

Sie schrieben im Vorfeld, es stehe bereits fest, dass “das Jubiläum zum 125. ein müder, aber über 6 Millionen Franken teurer Abklatsch von einst” sei. Warum denn?

Ein einfacher Blick auf Programm und Veranstaltungen im Verhältnis zum Anlass offenbarten diese Konklusion schwarz auf weiss. Präsentiert wurden viele Exponent:innen aus der israelischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft, der Wirtschaft, der Hightech-Industrie. Sie referierten über hochspannende Themen. Allerdings war der erste Zionistenkongress nicht das Ende, sondern der Anfang einer Entwicklung, die reflektiert werden und deren hochaktuelle Fragestellungen in Bezug auf Judentümer, jüdische Gemeinschaften, Israel und alles im Austausch miteinander verhandelt werden sollte.

In den Jahrzehnten nach 1897 entwickelten sich die Kongresse zu einer Art inhaltlichem Parlament der Juden in der Welt – ohne Entscheidungs-, aber mit massiver Denkgewalt. Alle, die Rang und Namen hatten, bis hin zu akademischen und geistigen Grössen, machten mit. Sie verhandelten, was jüdische Tradition und Zukunft, was jüdische Kultur und Gesellschaft, was jüdische Vision  und Realität ausmacht. Dieses Verhandeln ist ein grosser Wert des ursprünglichen modernen Zionismus, der beim Jubiläum kaum sichtbar ist. Was einst in Basel und den anderen Kongressen debattiert wurde, ist in vielen Bereichen nicht Vergangenheit sondern Gegenwart.

Was fehlt?

Den einen nichts. Anderen fehlt Raum für Diskussionen und die Fortführung der Kongressdebatte. Denn Israels Parlament ist nicht das Parlament der Juden in der Welt, sondern der Bürgerinnen und Bürger von Israel. Israel und die jüdische Gemeinschaft weltweit verstehen sich oft miss. Israel fühlt sich zunehmend für die Juden weltweit verantwortlich, die Juden in der Diaspora haben Gesprächsbedarf zu vielfältigen Themen. Dieser Raum muss geschaffen werden. Denn Israel ist eine Erfolgsgeschichte, die nicht als Antwort für alles gelten kann. 

Schon gar nicht für die ausgelassenen und die negativen Themen. Zum Zionismus gehören die jüdischen Gemeinschaften in über 100 Ländern. Alle deren Fragen im Spiegel der äusseren und inneren Bedrohungen, der Verfolgung, Ausgrenzung – aber auch im Spiegel ihrer Errungenschaften – wurden hier nicht verhandelt.

Das Bedürfnis vieler Delegierten der Diaspora, aus Südamerika oder aktuell Osteuropa etwa, wäre das Gespräch über Realitäten in deren Alltagsleben: Wie man Erziehung, Bildung und soziale Anliegen in der jüdischen Welt organisiert und finanziert, wie Flüchtlingsprogramme langfristig aufrechterhalten werden können. Zionistenkongresse waren nie Schönwetteranlässe, sondern verhandelten alles. Auch Fragen der Religion, die bis heute noch evident sind gerade im Verhältnis von Juden und Israel.

Viele Redner:innen betonen die Bedeutung der Diaspora und das Recht auf Alija, das Recht jeder jüdischen Person, nach Israel einzuwandern.

Ja. Dieses Recht auf Ajija aller Juden ist in Israel Gesetz. Es markiert die jüdische Heimstätte. Die Alija –  und ich spreche hier nun nicht von Expats oder zionistisch motivierter Auswanderung – nach Israel ist bis heute manchmal letzte Rettung für jüdische Menschen in dieser Welt. Aktuell finden regelrechte Auswanderungswellen der jüdischen Gemeinschaften vor allem aus Russland und teils der  Ukraine statt. Zusammen machen sie die grösste jüdische Gemeinschaft in Europa aus.

In Polen, in Ungarn stehen die jüdischen Gemeinden vor der Herausforderung abertausende Flüchtlinge zu unterstützen. Das offizielle Kongressprogramm in Basel passt bestens zum bevorstehenden Jubiläum 75 Jahre Israel und insgesamt zu wenig zum historischen Anlass hier und der Frage, wie man Zionismus ins heute übersetzt, über die Realität von Israel hinaus. Wer in 125 Jahren von diesem Anlass liest, wird wohl fragen: Waren da nicht drängende Probleme zu diskutieren?

Zielt der Zionismus aber nicht unweigerlich auf Israel?

Natürlich. Auf das demokratische Israel, so wie es in den Zionistenkongressen immer formuliert wurde. Demokratie lebt von Diskussion, von der Verhandlung der Zugänge und Argumente. An den Zionistenkongressen haben sich alle getroffen auf Augenhöhe – die Eliten, die Gemeindevertreter:innen etc. Die zionistische Weltorganisation gibt es, obwohl Israel existiert. Sie hat Mitglieder in der ganzen Welt. Sie soll verhandeln, was ausserhalb eines israelischen Parlaments zu verhandeln ist.

Apero Basel Zionistenkongress
Die geladenen Gäste im Gespräch vor dem Gala-Event am Montagabend. Michael Buholzer/Keystone

300 Personen demonstrierten in Basel gegen das Jubiläum. Man sah Plakate mit antisemitischen Verschwörungstheorien hörte Rufe, die Israel das Existenzrecht absprachen. Sie waren vor Ort. Haben Sie erwartet, dass es so kommen wird?

Als Journalist war ich an vielen Demonstrationen und kann das darum einordnen und vergleichen: Diese Demonstration ist friedlich verlaufen und nichts war justiziabel. Sie war, im grossen Ganzen, okay. Auch wenn ich in vielem anderer Meinung bin und die Übergriffe auf Journalisten verurteile.

Der Übergriff traf Sie selbst.

Dass Journalisten attackiert werden, ist nicht auf Palästina-Demos beschränkt. Das ist zunehmend so und hat sich seit der Pandemie verschärft. Das Paradoxe ist, dass Demonstrationen ja eigentlich die Öffentlichkeit suchen und ein paar Idioten diese dann mit Füssen treten. Trotzdem: Diese Demo hat versucht, Anliegen aus Teilen der Bevölkerung einzubringen, die nicht nur angesichts des Jubiläums emotional aufgeladen sind.

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Das verstehe ich und das hat auch eine gewisse Bedeutung fürs Thema, auch für Israel. Denn gerade in den Gesprächen mit israelischen Regierungsvertretern hier in Basel war allen ausnahmslos klar, dass die Palästinenserfrage einer der Elefanten im Raum ist. Die Europäer wollen das öfter aussprechen als viele Israeli, was sich ja auch in den Diskussionen rund um die Konferenz zeigt. Das Jubiläum selbst ist für die Palästinenserfrage aber vielleicht nicht der Rahmen.

Demo Pro Palestine Basel
Ein Demonstrantin mit einem Transparent mit der Aufschrift “Free Palestine” protestiert am Sonntag, 28. August 2022, im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 125-Jahr-Jubiläum des ersten internationalen Zionistenkongresses in Basel. Gaetan Bally/Keystone

Weil hier verschiedene Strömungen des Zionismus unter sich diskutierten?

Nun. Ich hätte mir Inputs und Diskussionen zu diesem Thema gewünscht, anstatt es gänzlich zu negieren und darauf zu warten, dass die Schweizer Repräsentanten an den Festreden darauf zu sprechen kommen. Die liberalen Zionist:innen vertraten keinen kolonialistischen Gedanken, sondern wollten eine jüdische Heimstätte, einen sicheren Ort für Jüdinnen und Juden, etablieren. Theodor Herzls “Altneuland” und spätere Schriften wollten eine Gesellschaft, die niemanden ausschliesst. Teilweise kam es anders.

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Warum Israel in Basel geboren wurde

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweiz spielte als Tagungsort in der zionistischen Bewegung eine wichtige Rolle. Ende August wird das 125-Jahre-Jubiläum gefeiert.

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Juden sind damals auch vor den Konsequenzen des Nationalismus regelrecht in den Zionismus getrieben worden. Herzls Schriften haben sich zwar in der zionistischen Bewegung durchgesetzt, aber man muss auch feststellen: Herzl war kein Prophet, sondern ein Journalist, der realpolitischer Pragmatiker wurde. Was Zionismus ist und leistet, muss man darum in jedem Jahrzehnt wieder verhandeln.

Lesen Sie auch unsere Reportage vom 125-Jahr-Jubiläum des 1. Zionistenkongress:

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