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Zivildienst-Boom zeigt Sinnkrise der Armee

"Zivi" als Pfleger im Spital Sursee im Kanton Luzern. Keystone

Die knapp 9000 Zivildienstleistenden seien für die Schweizer Armee ein Verlust. Doch dieser sei angesichts der Überbestände verkraftbar, entgegnet Armee-Experte Hans-Ulrich Ernst rechten Politikern, welche die Milizarmee in Gefahr sehen.

Während Jahrzehnten mussten Zivildienstanwärter in einer Gewissensprüfung ihre Gründe darlegen, weshalb sie keinen bewaffneten Militärdienst leisten wollten oder konnten.

Dieser alte Zopf wurde im April 2009 abgeschnitten. Seither gilt für die Armee-Alternative der so genannte Tatbeweis: Zivildienstler müssen einen Einsatz absolvieren, der eineinhalb Mal länger dauert als der Militärdienst.

Trotz dieser Hürde ist die Zahl der Zivildienstleistenden von 1800 auf knapp 9000 hochgeschnellt.

Parlamentarier der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) sehen deshalb die Wehrkraft der Milizarmee geschwächt. In der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats brachten sie Vorschläge durch, mit denen die Attraktivität des Zivildienstes drastisch eingeschränkt werden soll. Im wesentlichen geht es um die Wiedereinführung der Gewissensprüfung.

Aufwendige, aber ineffiziente Gewissensprüfung

Hans-Ulrich Ernst, ehemaliger langjähriger Generalsekretär des damaligen Eidgenössischen Militärdepartements (EMD, heute VBS), kann ob dieser Bemühungen, das Rad der Zeit wieder zurück zu drehen, nur den Kopf schütteln.

«Die Erfahrung zeigt, dass die Gewissensprüfung ausser sehr hohem Aufwand nichts gebracht hat, denn nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Zivildienstwilligen ist daran gescheitert.»

Anfangssturm vorbei

Ernst, der die heutige Armee als zu gross und zu ineffizient kritisiert, führt gegenüber swissinfo.ch ein weiteres Argument ins Feld: «Die Zahlen der Zivildienstwilligen sind bereits wieder am Sinken, deshalb ist die ganze Aufregung unbegründet.» Den Versuchen, die Hürden wieder zu erhöhen, gibt er deshalb politisch wenig Chancen.

Zwar bedeute jeder Zivildienstleistende für die Armee einen Verlust. Doch sei dieser angesichts der Überbestände verkraftbar. Dies selbst dann, wenn die geburtenschwächeren Jahrgänge in den nächsten Jahren automatisch für eine Verkleinerung der Bestände sorgen werden.

«Die Schweiz zählt rund 6 Millionen Schweizer Bürger und unterhält eine Armee von 140’000 Aktiven. Finnland mit seinen 5,5 Millionen finnischen Bürgern hat einen Armeebestand von 22’600 Aktiven.»

Den Überbestand illustriert Ernst auch am Beispiel Deutschlands. «Verteidigungsminister Guttenberg will eine Verkleinerung der Bundeswehr auf 170’000 Mann. Die punkto Grösse und Bevölkerung rund zehnmal kleinere Schweiz dagegen hat eine Armee mit insgesamt 220’000 Angehörigen.» In dieser Zahl sind 80’000 Reservisten enthalten.

Nicht der Anstieg der Zivildienstleistenden gibt Ernst zu denken, sondern das, was er indirekt über die Armee aussagt. «Die Zahl von rund 4000 jungen Männern, die nach der wenig attraktiven Rekrutenschule Zivildienst leisten wollen, ist ein eklatantes Beispiel für die Sinnkrise der gegenwärtigen Schweizer Armee.»

Was tun?

Zu viele Einheiten seien ohne sinnvollen Auftrag. «Das Kader ist leistungswillig, aber unterbeschäftigt. Das Bootsunglück auf der Kander (bei dem im Sommer 2008 fünf Wehrmänner ertranken, die Red.) war eine Folge davon.»

Trotz der Überbestände sieht die ehemalige «Graue Eminenz» im EMD die Bereitschaft der Truppen als nicht gegeben. «Beim Hochwasser 1999 konnte nur die Hälfte der Angehörigen eines Rettungsbataillons einrücken. Die anderen wären zwar ebenfalls voll motiviert gewesen, konnten ihren WK aber nicht verschieben.»

Trotz seiner Kritik sitzt Ernst nicht im selben Boot mit linken Armeekritikern, welche die Wehrpflicht abschaffen wollen. In seinem Modell der Milizarmee im 21. Jahrhundert («Miliz XXI») geht er von einer gleichbleibenden Anzahl der Dienstpflichtigen aus.

«40% würden aber ihren Dienst als Durchdiener am Stück leisten. Im Fall des erwähnten Hochwassers wären sie verzugslos im Einsatz gestanden.»

Festhalten an Arbeitsplätzen

Das ist aber Zukunftsmusik. Obwohl die Option Durchdiener schon heute besteht, leistet die grosse Mehrheit der Wehrmänner ihre insgesamt 260 Diensttage – die Rekrutenschule eingerechnet – in Form der alljährlichen, dreiwöchigen WK (Wiederholungskurse).

Dazwischen muss der Wehrmann seine Ausrüstung im Wert von 5000 Franken bei sich zu Hause aufbewahren, das Korpsmaterial wird in den Zeughäusern und Armeeparks gelagert. «Davon hängen Tausende von Arbeitsplätzen ab. Auch darum geht es jenen, die am Milizsystem festhalten wollen», sagt Hans-Ulrich Ernst.

Zivildienstler statt Armeeangehörige als «Pistenstampfer»

Die Sinnkrise der Armee wird in jenen Bildern besonders offenkundig, die Wehrmänner im Sicherheitseinsatz an der Fussball-EM 2008 in der Schweiz zeigen, oder beim Präparieren von Weltcup-Pisten im Winter. Solche Dienste sind zwar bei Veranstaltern äusserst willkommen und oftmals gar unverzichtbar.

Auch mag die Armee damit ihr Image bei einem Grossteil der Bevölkerung aufpolieren. Mit dem eigentlichen Verteidigungsauftrag haben sie aber nichts zu tun.

Hier wären vielmehr Zivildienstleistende am richtigen Einsatz-Ort. «Da auch der Zivildienst über Kaderleute verfügt, wäre es sehr wohl möglich, dass Zivildienstleistende bei den Ski-Weltcuprennen in Wengen und Adelboden als ‹Pistenstampfer› zum Einsatz kommen und so die Armee entlasten könnten», sagt Ernst. Dass der Zivildienst bereit sei, habe ihm dessen Leiter Samuel Werenfels versichert.

Renat Künzi, swissinfo.ch

Nach dem Wegfall der Gewissensprüfung stieg die Zahl der Zivildienstleistenden von 1800 auf über 8500 pro Jahr.

Dies entspricht der Zahl Rekruten, die im Oktober 2009 in die Winter-RS (Rekrutenschulen) eingerückt waren.

Das Schweizer Parlament zeigte sich beunruhigt über die steigende Zahl der Zivildienstgesuche.

National- wie Ständerat verlangten eine Revision des Zivildienstgesetzes.

Eine Mehrheit der Sicherheitspolitischen Kommission (SIK) des Nationalrats will die Hürden für den Zivildienst wieder anheben. Sie hat sich am Dienstag für eine Gesetzesrevision und die Wiedereinführung der Gewissensprüfung ausgesprochen.

Das entsprechende Gremium des Ständerats ist gegen eine Gesetzes-Verschärfung nach nur einem Jahr.

Der Bundesrat ist der Meinung, dass der Zivildienst-Boom die Armeebestände mittelfristig nicht gefährde.

Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) hat eine Volksinitiative zur Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht lanciert.

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