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Zivilgesellschaft setzt kräftiges Ausrufezeichen in Tunis

Trotz des Anschlags im Bardo-Museum unmittelbar zuvor dominierte am Weltsozialforum in Tunis eine friedliche Stimmung. AFP

Dem blutigen Anschlag auf das Nationalmuseum Bardo wenige Tage zuvor zum Trotz: Zehntausende Menschen aus der ganzen Welt sind nach Tunis gereist, um am Weltsozialforum über Folgen der Globalisierung zu sprechen. Die starke Teilnahme war auch ein Zeichen gegen den Terror und für eine demokratischere Gesellschaft.

Die Organisatoren des Grossanlasses, der am Samstag zu Ende geht, lagen richtig: Nach der Attacke islamistischer Terroristen auf das Bardo-Museum mit über 20 Toten vom 18. März hielten sie an der Durchführung des Weltsozialforums 2015 in TunisExterner Link fest. Die 13. Austragung des Weltgipfels der Globalisierungskritiker widerlegte damit die französische Zeitung «Libération», die nach der Bluttat getitelt hatte: «C’est fini la Tunisie, c’est fini le tourisme» – «Tunesien ist am Ende, mit dem Tourismus ist es aus».

Das «Anti-WEF» begann am 24. März: Unter dem Slogan «Die Völker der Welt gegen den Terrorismus» marschierten Zehntausende vor das Bardo-Museum, und das im strömenden Regen. Gleichentags begannen die Beratungen in den Räumen der Universität Manar. Vertreter von mehr als 4300 Organisationen und Vereinigungen aus 120 Ländern nahmen an über 1000 Workshops, Konferenzen und Debatten teil. Thematischer roter Faden waren die sozialen Probleme sowohl auf lokaler als auch globaler Ebene.

Das Weltsozialforum fand bereits 2013 in Tunis statt, der Hauptstadt des kleinen nordafrikanischen Landes, das als «Wiege des arabischen Frühlings» gilt. Konkret ging es jetzt auch darum, die «Dynamik der Veränderung nach der Revolution 2011 und die demokratischen Bewegungen in der Region» zu konsolidieren. Im letzten Jahr erlebte das Land erfolgreiche Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, was Tunesien zur grossen Ausnahme unter den anderen arabischen Ländern macht, die von der Erhebung ergriffen wurden.

2016: Ein Forum im Norden?

Für die nächste Ausgabe des Weltsozialforums im August 2016 bewirbt sich die kanadische Metropole Montreal. Ein Entscheid ist noch nicht erfolgt. Es wäre das erste Mal, dass die Veranstaltung auf der nördlichen Halbkugel stattfinden würde. Alle bisherigen Foren fanden in Lateinamerika, Afrika oder Asien statt.

Das erste Weltsozialforum fand 2001 in Porto Alegre in Brasilien statt. Es war als Gegenveranstaltung zum World Economic Forum in Davos konzipiert.

Laut Charta ist es ein «offener Begegnungsraum», um Alternativen zum «Neoliberalismus und der dominierenden Rolle des Kapitals und des Imperialismus in allen seinen Formen» zu diskutieren.

Das Forum ist unabhängig von Konfessionen, Regierungen und politischen Positionen. «Eine andere Welt ist möglich», lautet die Devise des Anlasses.

«Im Vergleich mit 2013 war die Präsenz arabischer Organisationen enorm, wie auch jene der Frauen und Jungen. Das hat mich tief beeindruckt», sagte Isolda Agazzi, verantwortlich für Entwicklungspolitik bei Alliance SudExterner Link. Die Dachorganisation von Nichtregierungs-Organisationen hat die Reise der rund 60-köpfigen Schweizer Delegation mit vorbereitet. Ihr gehörten Vertreter von NGO, politischen Parteien, Gewerkschaften und Medien an.

Interessen der Geber nicht hinterfragt

Im Fokus von Isolda Agazzi standen hauptsächlich wirtschaftliche Themen. Alliance Sud hat einen Workshop veranstaltet, in dem die Effektivität von öffentlich-privaten Partnerschaften in Entwicklungsprojekten untersucht wurde. «Die Debatten hier waren sehr nützlich, weil viele Themen wie etwa die Finanztransaktions-Steuer, der Kampf gegen Steuerbetrug und Sparpolitik bei uns grosses politisches Gewicht haben. Hier dagegen ist die Debatte nicht davon geprägt», so Agazzi. Die lokale Wirtschaftspolitik werde heute weitgehend von den internationalen Geldgebern bestimmt. «Diese verlangen beispielsweise die Liberalisierung von Investitionen und die Senkung von Unternehmenssteuern. Dabei werden diese Vorgaben nicht hinterfragt, weder von der Politik noch von der Öffentlichkeit», sagt Agazzi.

«Braucht man Investitionen, von denen in erster Linie die Investoren profitieren?» Öffentlich-private Partnerschaften stellt sie in Frage, gerade was den Bau von Infrastruktur betrifft. «Ist es nicht möglich, Kapital anderweitig aufzutreiben?»

Vor zwei Jahren seien ökonomische Fragen noch nicht so im Vordergrund gestanden, sagt Peter Niggli, Direktor von Alliance Sud. Damals habe die Politik dominiert, konzentrierten sich doch die Tunesier auf den Kampf zwischen Islamisten und Laizisten. Die gemässigten Islamisten der Ennahdha-Partei waren an der Regierung, bevor sie 2014 von der säkularen Nidaa Tounes abgelöst wurden.

«Marsch gegen Terrorismus»

Am Sonntag, den 29. März, findet in Tunis als Antwort auf den Anschlag im Bardo-Museum eine internationale Demonstration gegen Terrorismus statt.

Unter anderen werden Frankreichs Präsident François Hollande, der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas und Matteo Renzi, der Regierungschef Italiens, daran teilnehmen.

Vorgesehen sei auch eine Teilnahme von Vertretern aus der Schweiz, sagte Rita Adam, Schweizer Botschafterin in Tunis, am Donnerstag gegenüber Schweizer Journalisten, die am Forum teilnahmen.

Tunesien hofft, mit einem grossen Aufgebot an Staatsführern eine ähnlich mächtige Demonstration gegen Terrorismus durchführen zu können, wie sie nach den Attentaten von Januar in Paris die französische Hauptstadt erlebte.

Der Anschlag vom 18. März im Nationalmuseum Bardo in Tunis forderte 23 Tote und 47 Verletzte. Der Islamische Staat übernahm die Verantwortung für die Bluttat.

Ein weiteres dominierendes Thema war die Migration, vor allem jene im Mittelmeerraum. «Dieses Thema hat viele Organisationen mobilisiert», glaubt Peter Niggli. «Die Länder aus der Sahelzone und des Maghreb haben zusammen mit Organisationen und Gewerkschaften aus Europa versucht, eine kleine Bresche für Möglichkeiten einer legalen Migration zu schlagen. Aber aktuell gibt es keine solche Lücke, mit Ausnahme für die Reichen», so Niggli.

Algerische Störmanöver

Was die Sicherheit anging, die nach dem Bardo-Anschlag in den Vordergrund gerückt war, ging das Weltsozialforum friedlich über die Bühne. «Der Anschlag auf das Bardo hat das Forum nicht in Beschlag genommen», sagt Isolda Agazzi. «Ich habe erstaunlich wenige Polizistengesehen, sogar im Zentrum. Auf der Avenue Bourgiba (der Hauptflaniermeile in Tunis, die Red.) gab es jeden Abend Konzerte.»

Ganz störungsfrei lief das Forum dann aber doch nicht ab: Eine Gruppe junger Algerier stiess Stände von marokkanischen Teilnehmern um, aus Protest gegen die faktische Annektierung der Westsahara durch Marokko. Nach Tunesien, das mit 825 Organisationen die grösste Delegation stellte, folgte jene aus Algerien.

Infolge des Bardo-Anschlags verkürzte aber Claude Hêche, der höchste Schweizer Repräsentant am Forum, seinen Aufenthalt in Tunis. Der Präsident des Ständerats (kleine Kammer im Schweizer Parlament) blieb nur zwei statt der geplanten vier Tage. Zum Abstecher ans Forum am Donnerstag kamen offizielle Treffen hinzu, unter anderem mit Mohamed Ennaceur, dem Präsidenten des tunesischen Parlaments, und Besuche von Projekten der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Vom Forum nimmt Heche «einen sehr grossen Reichtum des Austauschs» mit nach Hause.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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