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Zustimmung noch offen: Zwangsheirat unter der Lupe

AP Photo/David Guttenfelder

Die Schweiz wird bald ein Gesetz über die Zwangsheirat einführen. Ein schwer fassbares Problem, das sich um Gewalt und Isolierung dreht und das vor allem den Prozess der Integration von ausländischen Minderheiten beleuchtet.

Die Ehe «ist keine private Angelegenheit, sie kann und wird es niemals sein», schrieb der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss.

Während Jahrhunderten war Inzucht gang und gäbe in fast allen Gemeinschaften, und die Menschen heirateten innerhalb der gleichen sozialen Gruppe.

Bis vor wenigen Jahrzehnten konnten auch noch in Europa junge Menschen aus wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Gründen zur Heirat gezwungen werden.

Heute sind in den westlichen Ländern unter Zwang geschlossene Verbindungen per Gesetz verboten, was aber nicht bedeutet, dass sie gänzlich verschwunden sind.

2005 hat der Europarat eine Resolution gegen die Zwangsheirat verabschiedet und seither haben verschiedene Staaten – Grossbritannien als erster – besondere Massnahmen im Kampf gegen dieses Phänomen ergriffen.

Auf Druck des Parlaments und von Menschenrechts-Organisationen hat auch der Bundesrat (Schweizer Regierung) Anfang letztes Jahr einen Gesetzesvorschlag präsentiert, der den beiden Kammern zur Prüfung vorliegt.

Der Text sieht vor, dass Zwangsverheiratungen von Amtes wegen verfolgt werden. Die Opfer müssen somit nicht mehr Anzeige erstatten und die Verantwortlichen dieses kriminellen Aktes können zu einer Höchststrafe von fünf Jahren verurteilt werden. Heute beträgt das Strafmass höchstens drei Jahre.

Fehlende Daten

Zum Phänomen der Zwangsheirat in der Schweiz existiert im Moment keine genaue Statistik, der grösste Teil der wissenschaftlichen Studien befindet sich erst in einem Anfangsstadium. Die Stiftung Surgir schätzte 2006 die Anzahl Fälle im Land auf 17’000, doch die angewendete Methode wurde von verschiedener Seite in Frage gestellt. Seither sind die Forscher vorsichtiger geworden.

Das Beratungszentrum zwangsheirat.ch verzeichnet im Durchschnitt ein bis vier Anfragen pro Woche, während den Sommerferien sind es neun. Meistens sind die Absender Jugendliche zwischen 13 und 25 Jahren, Einwanderer aus der ersten und zweiten Generation.

Gemäss Anu Sivaganesan ist diese Zahl jedoch nur die Spitze des Eisbergs: «Die Personen, die sich an uns wenden, sind solche, die sich gegen das Diktat ihrer Familien auflehnen. Doch wie viele bleiben im Schatten?», fragt sich der 24-Jährige, der seit 2005 in dieser Nichtregierungs-Organisation (NGO) aktiv ist und an der Universität Zürich Recht studiert.

Die Opfer einer Zwangsheirat geraten auf der Suche nach Freiheit in einen schweren Konflikt mit ihrer ausgeprägten Loyalität zur Familie, dazu kommt die Angst vor körperlichen und wirtschaftlichen Repressalien. Für ausländische Bürger besteht zudem das konkrete Risiko einer Ausweisung in das Herkunftsland, wenn die Aufenthaltsbewilligung an jene des Ehepartners gebunden ist.

«Trotzdem sind es vor allem Frauen, die um Hilfe bitten – obwohl ihre wirtschaftliche Situation oft fragiler ist. Zwangsheiraten gibt es aber auch bei Männern», fährt Sivaganesan, srilankischer Herkunft, fort.

«In der albanischen Gemeinschaft zum Beispiel richten sich 30% der Beratungen an junge, in der Schweiz geborene und aufgewachsene Männer, die Mühe haben, solche Ansprüche zu akzeptieren.»

Doch was bringt Eltern dazu, ihre Kinder unter Zwang zu verheiraten? Für Sivaganesan «hat die Zwangsheirat etwas mit einer patriarchalischen Sicht der Gesellschaft und kulturellen Traditionen zu tun. Doch gerade dann, wenn diese Aspekte tabuisiert und aus vermeintlicher Angst vor politischer Instrumentalisierung verneint werden, können ausländerfeindliche Kreise dies ausbeuten».

Das religiöse Element dagegen sei nicht dominant: «Unter den Opfern, die sich an zwangsheirat.ch wenden, sind Christen und Juden, kurdische und türkische Alewiten, hinduistische Tamilen, islamische Albaner und Kosovaren.»

Integration im Brennpunkt

Für die Anthropologin Anne Lavanchy, die eine Studie zu diesem Thema im Kanton Waadt leitete und die Ausführlichkeit des Phänomens in Zweifel zieht, «kann die Zwangsheirat nicht in Beziehung mit einer bestimmten Kultur oder einer Religion gebracht werden. Sie stellt in keinem Land die soziale Norm dar».

Vonnöten wäre also der Integrationsprozess, so die Professorin aus Neuenburg. Wenn sich eine Migrantenfamilie in einer sozial und wirtschaftlich isolierten Situation befinde, sei die Gefahr gross, alte Traditionen oder Bräuche wieder zu beleben, um die Bindung an ihr Herkunftsland aufrecht zu erhalten.

«Die Debatte um die Zwangsheirat bringt verschiedene Probleme der betroffenen Familien ans Licht. Die Isolierung von Familien hat gesellschaftliche und gesundheitliche Konsequenzen zur Folge, das Risiko einer Zunahme von familiären Problemen und häuslicher Gewalt ist gross», fährt Lavanchy fort.

«Oft befinden sich die Migranten in einer prekären Situation. Die Erneuerung der Aufenthaltsbewilligung steht an, die Arbeitssuche ist schwierig und die gesellschaftliche Ächtung droht. Tatsächlich werden viele der Probleme von Migrantenfamilien systematisch als Begründung der Ausgrenzung herangezogen. Über diese Mechanismen sollte man nachdenken.»

«Barbarisiert oder banalisiert»

Die Debatte über die Zwangsheirat in der Schweiz wurde von Trix Heberlein lanciert, Ex-Ständerätin (kleine Kammer) der FDP/Die Liberalen, die 2006 die erste Motion im Parlament einreichte.

Seither haben verschiedene Kantone auf Anregung des Bundesamts für Migration Präventionsprogramme und Hilfestellungen für die Opfer eingeleitet. Im Kanton Genf werden zum Beispiel Kurse zur Sensibilisierung durchgeführt. Sie richten sich einerseits an Berufsleute im Bereich Gesundheit und Bildung, anderseits an die Gemeinschaften der Migranten.

Bevor man das Problem bekämpfen könne, müsse man es erst begreifen, darin sind sich Anne Lavanchy und Anu Sivaganesan einig.

Die grösste Schwierigkeit liegt in der Definition der Zwangsheirat. Der Unterschied zwischen einer Zwangsheirat und einer arrangierten Heirat ist oft schwierig auszumachen.

Wie kann man wissen, ob eine junge Frau aus freiem Willen einer Heirat zugestimmt hat? Wie kann man die jungen Leute beschützen, ohne die Traditionen ihres Landes verleugnen zu müssen, die zwar in einem Land wie die Schweiz schwierig zu verstehen sind, aber und dennoch legal sind?

Aus der Studie, die von Lavanchy im Kanton Waadt durchgeführt wurde, geht hervor, dass es für die Fachleute schwierig ist, die Fälle von Zwangsheirat von andern Gewaltanwendungen (häusliche Gewalt, Menschenhandel) zu unterscheiden.

«Das neue Gesetz hat eine wichtige symbolische Bedeutung. Damit das Ziel erreicht wird, muss das Thema entpolitisiert werden, denn es wird regelmässig banalisiert oder in Zusammenhang mit ‹barbarischen› Traditionen gebracht», unterstreicht Sivaganesan.

«Das Problem der Zwangsheirat muss als das, was es ist, bekämpft werden: eine Verletzung der Menschenrechte. Es sollte nicht missbraucht werden für eine neue Strategie, um Ausländer aus der Schweiz zu auszuweisen.»

Das Parlament wird sich im Oktober erneut mit dem Thema befassen, parallel zur Revision des Asyl- und Ausländerrechts. Dann muss sich das Parlament auch zur Motion des Christlichdemokratischen Nationalrats Alois Gmür äussern, der verlangt, dass die Zwangsheirat in den Katalog der Gründe für eine Ausweisung von kriminellen Ausländern aufgenommen wird. Die Auswirkung des Gesetzes sollte also über den blossen Schutz der Opfer von Zwangsheirat hinausgehen.

Die Schweizer Regierung will mit gesetzgeberischen Massnahmen Zwangsheiraten bekämpfen und hat am 23. Februar 2011 eine entsprechende Botschaft zuhanden des Parlamentes verabschiedet.

Folgende Massnahmen sind vorgesehen:

– Die Zwangsheirat wird als Verletzung des Schweizerischen Strafgesetzes betrachtet

– Jemand, der eine Person unter Anwendung von Gewalt oder mit Bedrohung zu einer Heirat zwingt, wird zu einer Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe verurteilt

– Wenn eine Ehe unter Verletzung der Freiheit der Eheleute geschlossen wird, wird sie als nichtig erklärt

– Im Ausland geschlossene Ehen mit Minderjährigen werden nach Schweizer Recht nicht mehr anerkannt

(Quelle: Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement)

In den meisten Ländern gilt für eine Eheschliessung das Mindestalter von 18 Jahren.

Nach Prognosen der Vereinten Nationen könnten trotzdem mehr als 100 Millionen Mädchen in den nächsten zehn Jahren verheiratet werden.

In den letzten dreissig Jahren ist diese Praxis zwar in spürbarer Weise zurückgegangen, doch ist sie in ländlichen und armen Gegenden immer noch die Norm.

Mehr als die Hälfte der Mädchen in Bangladesch, Mali, Mosambik und Niger werden vor ihrem 18. Geburtstag zwangsverheiratet. In den gleichen Ländern leben 75% der Menschen mit weniger als zwei Dollar pro Tag.

Nach einer Studie des «International center for research on women» gibt es keinen Zusammenhang zwischen einer bestimmtem Religion und der Verheiratung von Minderjährigen.

Das UNO- Kinderhilfswerk Unicef zählt drei Gründe auf, warum Eltern beschliessen, ihre Kinder zu verheiraten:

– Sie sind zu Hause eine wirtschaftliche Last

– Die Ehe wird als Form von Schutz gegenüber sexuellem Missbrauch betrachtet

– Die Eltern wollen eine unerwünschte Schwangerschaft verhindern, die eine zukünftige Heirat gefährden würde

(Quellen: Vereinte Nationen und International center for research on women)

(Übertragen aus dem Italienischen: Christine Fuhrer)

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