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Zuwanderungs-Bremse auch für «alte» EU-Länder

Auch auf dem Bau werden sie gebraucht, die ausländischen Arbeitskräfte. Keystone

Die Schweiz will den Zugang zu ihrem Arbeitsmarkt neu für alle EU-Länder kontingentieren. Politisch ist die Massnahme umstritten. Bürgerliche Politiker befürworten sie, für die Linke ist sie "Valium fürs Volk". Die EU zweifelt an deren "Sinnhaftigkeit".

Mit dem Anrufen der Ventilklausel will die Schweizer Regierung die Zuwanderung neu auch für Personen aus den alten EU-Ländern (EU-17) einschränken. Für die neuen EU-Länder (EU-8) hat er die Klausel bereits vor einem Jahr und für eine Dauer von zwei Jahren aufgerufen.

Der Bundesrat sei zum Schluss gekommen, dass die Ventilklausel als eine Massnahme unter vielen anderen dazu beitragen solle, die Zuwanderung wirtschafts- und gesellschaftsverträglich zu gestalten. Er sei sich bewusst, dass das Instrument der Ventilklausel nur kurzfristig wirken könne und weitere langfristig wirkende Massnahmen notwendig seien, heisst es in einer Mitteilung.

Die Ventilklausel, die im Personenfreizügigkeitsabkommen vorgesehen ist, ermöglicht der Schweiz, die Zuwanderung vorübergehend zu begrenzen. Voraussetzung ist, dass die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen in einem Jahr mindestens 10 Prozent über dem Durchschnitt der vergangenen drei Jahre liegt.

Vor einem Jahr hatte der Bundesrat die Klausel für die EU-8-Länder aktiviert, also für Bürger aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Da sich die Ventilklausel nur auf die fünf Jahre gültigen B-Bewilligungen bezog, ersuchten die Bürger aus diesen Staaten um mehr Kurzaufenthaltsbewilligungen (L-Bewilligungen).

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Ventilklausel: Die EU oder die Stimmbürger verärgern?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Rechtlich ist die Lage klar: Wenn die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den Ländern der EU ein bestimmtes Mass erreicht ,was Ende April der Fall sein wird, kann der Bundesrat die so genannte Ventilklausel anrufen und damit die Einwanderung kontingentieren. So steht es in den bilateralen Verträgen mit der EU. Politisch hingegen ist die Lage komplex…

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Zweifel am Sinn der Klausel

Er nehme den souveränen Entscheid zur Kenntnis und werde diesen «selbstverständlich respektieren», sagte Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments. Er äusserte jedoch «Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Ventilklausel».

Auch in der Schweiz stösst der Entscheid auf Kritik: So erachten die Sozialdemokraten (SP) und die Grünen die Massnahme als wirkungslos. Sie sei bestenfalls «Valium fürs Volk», wird SP-Präsident Christian Levrat in einer Mitteilung zitiert. Die Partei fordert eine wirkungsvolle Verstärkung der flankierenden Massnahmen am Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie im Bereich der Infrastrukturen und der Bildung.

Die Partei verlangt zudem Mindestlöhne gegen Lohndumping, zusätzliche Mittel für den gemeinnützigen Wohnungsbau und eine Kontrolle der Mieten. Ausserdem sei eine Bildungsoffensive nötig, weil die Schweiz ihre Arbeitskräfte selber ausbilden solle statt sie im Ausland abzuwerben.

Die Ventilklausel ist gemäss den Grünen ein Placebo und führt zu Spannungen mit der EU. Der Entscheid sei eine falsche Symbolpolitik. Viele Arbeitssuchende aus der EU würden auf Kurzaufenthaltsbewilligungen ausweichen, so die Grünen.

Weite Teile Europas stecken in der Krise, die prosperierende Schweiz liegt mittendrin und ist auch deshalb ein Migrations-Land.
 
Im Januar 2013 hat die Zahl der neu zugezogenen Arbeitskräfte aus den EU-17-Staaten im Vergleich mit dem Januar 2012 um fast 33% zugenommen.
 
Bezogen auf die EU-8-Staaten (Osteuropa) betrug die Zunahme fast 50%.
 
5500 Einwanderer aus EU-17-Ländern erhielten im Januar eine Bewilligung als Daueraufenthalter. Das ist der zweithöchste Monatswert seit Anfang 2009.
 
Die grössten Einwanderer-Gruppen kamen aus Deutschland, gefolgt von Italien, Portugal, Frankreich und Spanien.
 
Insgesamt sind zwischen Februar 2012 und Januar 2013 aus der EU-17 mehr als 79’000 und aus der EU-8 13’500 Arbeitnehmer eingewandert.

Auch SVP zweifelt an Wirkung

In den Augen der beiden bürgerlichen Parteien FDP und CVP handelt der Bundesrat konsequent und hält seine Versprechen ein. Der Entscheid sei gegenüber dem Volk glaubwürdig, sagte FDP-Präsident Philipp Müller. Der Bundesrat habe bereits bei der EU-Osterweiterung versprochen, dass es ein Mittel gebe, die Zuwanderung zu bremsen, falls sie eine gewisse Zahl überschreite.

Mit der Ausweitung auf die ganze EU sei zudem der Vorwurf aus dem Raum, dass die Anrufung der Ventilklausel diskriminierend sei, wie dies die EU vor einem Jahr der Schweiz vorgeworfen habe. Der Bundesrat habe die innenpolitische Situation höher gewichtet als die aussenpolitische Lage. Er habe deshalb absolut Verständnis, dass die aussenpolitische Lage damit nicht einfacher werde, so Müller.

In der Politik sei es wichtig, eingegangene Versprechen zu halten, sagte CVP-Sprecherin Marianne Binder. Die Anrufung der Ventilklausel sei an bestimmte Bedingungen geknüpft, und die seien nun erfüllt. Deshalb müsse man konsequent sein, so Binder.

Für die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) dagegen ist die Landesregierung nicht konsequent und das Instrument der Ventilklausel wenig tauglich. SVP-Präsident Toni Brunner sprach von einem halbherzigen Entscheid. Das einzig Positive daran sei, dass der Bundesrat damit bestätige, dass ein Zuwanderungsproblem bestehe und dies auch gegenüber der EU klar mache. Aber über die Wirkung gebe er sich keiner Illusion hin, so Brunner.

Der Entscheid belaste Unternehmen, Randregionen und die Landwirtschaft sowie die bilateralen Beziehungen, kritisiert der Wirtschaftsdachverband economiesuisse. Der Verband erwartet vom Bundesrat, dass er sich dafür einsetze, dass es zu keiner Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU komme.

Kein Akt gegen die EU

Justizministerin Simonetta Sommaruga hat vor zu hohen Erwartungen im Zusammenhang mit der Ventilklausel gewarnt. Die Ventilklausel könne die Probleme der Zuwanderung nicht lösen, sagte sie vor den Medien in Bern.

Dies gelte aber für andere Massnahmen auch. Die Summe verschiedener Massnahmen sei die Antwort auf die starke Zuwanderung. Der Bundesrat bekräftige seine Haltung, dass es auch politische Massnahmen brauche, um die unerwünschten Folgen der Zuwanderung abzufedern.

Für den Bundesrat sei klar, dass die Ventilklausel nur einen kleinen Effekt auf die Zuwanderung habe, sagte Sommaruga. Gefordert sei aber nicht nur die Politik. Auch die Wirtschaft, die Sozialpartner und die Kantone müssten ihren Teil beitragen.

Sommaruga betonte weiter, der Bundesrat erachte die Anrufung der Ventilklausel nicht als unfreundlichen Akt gegenüber der EU. Er wende eine Bestimmung an, die er mit der EU ausgehandelt habe. «Der Bundesrat steht voll und ganz hinter der Personenfreizügigkeit.» Die EU sei und bleibe der wichtigste Partner der Schweiz.

Auch die wachsenden sozialen Ungleichheiten in Europa sprach Sommaruga an. «Wir sind insofern wirklich ein Anziehungspunkt», sagte sie. Die Zuwanderung werde auch durch den Druck in den Herkunftsländern ausgelöst. Armutsmigration würde es aber auch ohne Personenfreizügigkeit geben, betonte die Justizministerin.

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