Zuwanderungs-Votum lässt Ausländer im Ungewissen
Kann ich in der Schweiz bleiben? Darf meine Frau arbeiten? Wie steht es um meinen Grenzgänger-Status? Könnte meine Firma plötzlich wegziehen? Zwei Monate nach der Abstimmung zur Begrenzung der Zuwanderung herrscht unter Ausländern, die in Genf wohnen und arbeiten, nach wie vor Verwirrung.
«Bevor ich hierher kam, habe ich in Belgien, Irland und Zypern gearbeitet. Das ergab sich so innerhalb der EU. Für mich ist es eigenartig, zum ersten Mal inmitten Europas zu sein und doch nicht dazuzugehören. Und nun haben wir die Botschaft erhalten, dass es unklar sei, ob wir bleiben können», erklärt Patrick Soetens, belgischer Direktor der online-Bank Strateo, der in Frankreich wohnt, aber in Genf arbeitet.
Die Emotionen unter Expats und Grenzgängern in der Region von Genf gehen noch immer hoch, wenn sich die Leute mit den Unsicherheiten und möglichen Auswirkungen der Abstimmung vom 9. Februar auseinandersetzen. An diesem Tag hatte das Schweizer Stimmvolk einer Vorlage der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) über eine Begrenzung der Einwanderung und Wiedereinführung von Kontingenten für Leute aus der Europäischen Union knapp zugestimmt.
Die Schweiz sieht sich nun in den kommenden drei Jahren bei der Umsetzung der Vorlage mit praktischen Schwierigkeiten und ungewissen wirtschaftlichen Konsequenzen konfrontiert.
Soetens hatte im März zusammen mit rund 200 anderen Personen an einer Veranstaltung der online-Expat-Gemeinde Glocals teilgenommen, wo der Genfer Wirtschafts- und Sicherheitsdirektor Pierre Maudet darüber informierte, was die Abstimmung bedeutete und welches die möglichen nächsten Schritte sein könnten.
Wie Glocals-Gründer Nir Ofek sagte, bleibt der Volksentscheid ein «sehr heisses Thema» unter den 100’000 Mitgliedern des Forums, die wegen der Unsicherheit noch immer «hungrig nach Informationen» seien.
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Die Fragen an den Genfer Minister – und an einer ähnlichen Veranstaltung vom 3. April ans Geneva Graduate Institute – wiesen ein breites Spektrum auf: von den Folgen für die Familienzusammenführung oder laufenden Anträgen für einen Schweizer Pass über die Frage, wie ein Kontingentierungssystem mit dem Abkommen über den freien Personenverkehr in der EU kompatibel sein könnte und was es für Personen aus Nicht-EU-Mitgliedstaaten oder Grenzgänger bedeuten würde. Die Leute wollten wissen, wie und wo ein Quotensystem angewendet würde – in bestimmten Wirtschaftsbranchen, Regionen, Funktionen oder bei individuellen Arbeitnehmern.
Maudet hatte zwar nur wenig Antworten, versuchte aber dennoch, die Gemüter zu beruhigen: «Ich habe keine Kristallkugel, um vorauszusehen, was in den nächsten drei Jahren geschehen wird. Ich kann Ihnen aber erklären, wofür wir uns einsetzen werden», sagte er vor dem Publikum. «Panik ist nicht angebracht», sagte der freisinnige Politiker, «denn drei Jahre sind eine lange Zeit, und die Schweiz hat die erstaunliche Gabe, sich anzupassen.»
Man werde alle möglichen Optionen prüfen lassen. Sollten Kontingente eingeführt werden, werde Genf die Position einer internationalen Stadt und auch als Grenzregion verteidigen, so wie auch Basel oder das Tessin, die ebenfalls von ausländischen Arbeitskräften abhängig seien.
Für einige Zuhörer schien seine beruhigende Botschaft zu funktionieren. «Ich mache mir nicht zu viele Gedanken und glaube, dass es die Schweizer Regierung schaffen wird, Lösungen zu finden», sagte der Brite Matthew Leguen de Lacroix, geschäftsführender Teilhaber der Immobilienfirma DTZ.
Am 9. Februar hat das Schweizer Stimmvolk der Volksinitiative «Gegen die Masseneinwanderung» mit 50,3% zugestimmt. Die Vorlage der Schweizerischen Volkspartei, die immer wieder mit dem Ausländer-Thema und gegen die EU politisiert, verlangt die Wiedereinführung von Kontingenten. Zudem sollen bei Vakanzen wenn möglich Arbeitnehmer aus dem Inland bevorzugt werden. Die SVP will auch die Rechte von Zuwanderern auf Sozialleistungen beschränken.
Festgelegt ist auch, dass die Schweiz ihre bilateralen Abkommen mit der EU über den freien Personenverkehr innert dreier Jahre neu verhandeln oder aufkündigen muss. Dies wiederum könnte auch andere bilaterale Verträge mit der EU gefährden.
Die Schweizer Regierung plant auf Ende Jahr, einen Gesetzesentwurf über eine Begrenzung der Zuwanderung vorzulegen. Bis Ende Juni soll sie einen Plan zur Umsetzung der Initiative ausarbeiten und Sondierungsgespräche mit den 28 EU-Mitgliedstaaten über die Zukunft des freien Personenverkehrs und andere bilaterale Abkommen führen.
Der freie Verkehr von Personen und Arbeit innerhalb der Mitgliedstaaten ist ein politischer Meilenstein der EU. Die Schweiz nimmt durch ein Abkommen mit Brüssel daran teil, obwohl sie der EU nicht angehört.
Das bilaterale Abkommen über die Personenfreizügigkeit trat 2002 in Kraft. Für die osteuropäischen Länder, die der Union später beitraten, gilt das Abkommen seit 2011. Für Bulgarien und Rumänien, die erst seit 2007 zur EU gehören, bleibt der Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt bis 2016 beschränkt. Eine Lösung für Kroatien, das jüngste EU-Mitglied, wird diskutiert.
Unbehagen
Die Initiative «gegen die Masseneinwanderung» war eine Reaktion auf die jüngste Netto-Zuwanderung, die sich in den letzten Jahren auf rund 80’000 jährlich belief. Der Ausländer-Anteil in der Schweiz beträgt 23% bei einer Bevölkerung von acht Millionen. Im Kanton Genf beträgt der Anteil 41%, wobei sechs von zehn Ausländern aus dem EU-Raum stammen. Die Folgen für Genf könnten erheblich sein, denn hier sind 900 multinationale Firmen angesiedelt mit tausenden ausländischen Arbeitskräften und 69’000 Pendlern aus dem benachbarten Frankreich.
Jean-François Besson, Generalsekretär der Vereinigung für europäische Grenzgänger (GTE), erklärte, die Situation sei in den letzten zwei Monaten nicht klarer geworden, und die Mitglieder seien nach wie vor besorgt. «Nach verschiedenen Treffen in letzter Zeit und Kontakten mit Leuten vor Ort stellen wir fest, dass es auf Schweizer Seite ein grosses Unbehagen gibt», sagte Besson. Er befürchtet, dass der Genfer Privatsektor bei der Vergabe der Kontingente gegenüber den öffentlichen Behörden bevorzugt werden könnte.
Die Schweizer Geschäfts-Elite warnt auch davor, dass die Abstimmung die Unsicherheit verstärkt habe und Kürzungen der Wettbewerbsfähigkeit schaden könnten. Gemäss Schätzungen eines Berichts der Credit Suisse könnte die Schweizer Wirtschaft infolge der Abstimmung in den nächsten drei Jahren 80’000 Arbeitsplätze weniger generieren.
«Die steigende Zahl von Initiativen in den letzten paar Jahren, darunter die Zuwanderungs-Initiative, führt zu Unsicherheit und beeinträchtigt die Berechenbarkeit und Stabilität des politischen und rechtlichen Systems der Schweiz», sagte Frédérique Reeb-Landry, Präsidentin vom Groupement des Entreprises Multinationales (GEM), das die Interessen von multinationalen Unternehmen in der Genfersee-Region vertritt.
Auch Familien betroffen
Aber nicht nur die ausländischen Gelderwerber sind besorgt über ihre Zukunft. «Ehepartner – Männer oder Frauen, die ihren Partnern in die Schweiz folgen – erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung, aber bekommen sie auch eine Arbeitsbewilligung? Das ist eine der Hauptsorgen in unserem Büro und bei unseren Partnern in Bezug auf die Frage, was mit den Familien passiert», sagte Andrea Delannoy, Managerin bei SCC Sarl Centres.
Auch nicht vergessen sollte man den Rest des so genannten Internationalen Genfs. Im Unterschied zu den dort ansässigen 250 Nichtregierungs-Organisationen und den zahlreichen internationalen Sportverbänden im Nachbarkanton Waadt werden die ausländischen Funktionäre, die am UNO-Hauptsitz und für andere internationale Organisationen in Genf arbeiten, von Kontingenten weitgehend verschont bleiben – mit wenigen Ausnahmen.
«[Die Abstimmung] wird die Arbeitnehmerrechte des UNO-Personals nicht direkt betreffen, da sie nicht den Arbeitsbewilligungen unterliegen und die Mitarbeiter vom Aussenministerium eine Sondergenehmigung, eine so genannte Legitimations-Karte, für die Schweiz erhalten. Wir sorgen uns aber um die Auswirkung, die es auf Ehepartner und Angestellte, die in der Schweiz in Pension gehen möchten, haben könnte «, sagte Ian Richards, Geschäftsführer des Staff Coordinating Council im Genfer UNO-Büro.
«Dies könnte eine verheerende Auswirkung auf die Paare haben, da die Ehepartner auch arbeiten möchten. Wenn Arbeitsverhältnisse für Partner abgeschafft werden, wird Genf an Attraktivität einbüssen. Das schadet dem Image und wirkt sich darauf aus, wie die Schweiz von unseren Kollegen wahrgenommen wird, insbesondere bei jenen, die hierher kommen möchten.»
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
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