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Zwischen Arbeitskräftemangel und Fremdenangst

Für italienische Arbeitnehmer, die in die Schweiz eingewandert sind, war es nicht immer leicht, ihre Familie nachkommen zu lassen. RDB

Vor 50 Jahren unterzeichneten Bern und Rom das Abkommen über die Auswanderung italienischer Arbeitskräfte in die Schweiz. Dieses Abkommen, das unter anderem das Recht auf Familiennachzug regelte, sorgte in der Schweiz für heftige Diskussionen. Einige der damaligen Themen schwingen in der heutigen Ausländer-Debatte immer noch mit.

«Die Schweizer machen sich eben kolossale Illusionen, wenn sie glauben, wir könnten auf die Dauer nur die aktive, im Berufsleben stehende Bevölkerung des Nachbarstaates hereinnehmen, die Familien, Frauen, Kinder und Betagte aber im Absenderstaat der an und für sich willkommenen Arbeitskräfte zurücklassen», schrieb im August 1964 Bundesrat Hans Schaffner.

Der damalige Schweizer Wirtschaftsminister reagierte mit diesem Schreiben an einen hohen Bundesbeamten auf Kritik in der Schweizer Presse am Migrationsabkommen für italienische Arbeitskräfte. Dieses war nur wenige Tage zuvor mit Italien unterzeichnet worden und musste noch von den jeweiligen Parlamenten der beiden Länder ratifiziert werden.

Mit dem Abkommen war die Schweiz nicht auf alle Forderungen Italiens eingetreten, doch es brachte erhebliche Verbesserungen für italienische Arbeitnehmer in der Schweiz, beispielsweise die Möglichkeit, nach fünf Jahren den Arbeitsplatz zu wechseln oder nach fünf Jahren als Saisonnier eine Jahresaufenthalter-Bewilligung zu erhalten.

Der wichtigste Punkt des Abkommens bestand indes in der Möglichkeit des Familiennachzugs. Im Abkommen heisst es, dass die schweizerischen Behörden «der Ehefrau und den minderjährigen Kindern eines italienischen Arbeitnehmers den gemeinsamen Wohnsitz mit dem Familienhaupt in der Schweiz gestatten».

Bereits 1965 reichte die Demokratische Partei des Kantons Zürich – eine Abspaltung der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), die sich 1971 wieder mit dieser vereinte – eine erste Überfremdungs-Initiative ein, die eine ausländische Wohnbevölkerung von maximal 10% verlangte. Das Parlament lehnte die Initiative ab, die 1968 zurückgezogen wurde, bevor sie zur Abstimmung kam.

Im Mai 1969 folgte bereits das zweite derartige Volksbegehren. Hauptinitiant war James Schwarzenbach, Zürcher Nationalrat der rechten Nationalen Aktion (NA).

Die nach ihm benannte Schwarzenbach-Initiative wollte den Ausländeranteil ebenfalls auf 10% beschränken, was die Ausweisung von 300’000 Personen zur Folge gehabt hätte. 54% des Schweizer Stimmvolks sagten bei der Abstimmung im Juni 1970 Nein. In acht Kantonen fand die Initiative aber eine Mehrheit.

Die dritte Überfremdungs-Initiative wurde erneut von James Schwarzenbach lanciert. Die Forderung nach einer Höchstzahl von Ausländern (maximal 500’000) wurde an der Urne von 65,8% der Stimmenden abgelehnt.

1977 lehnten sogar 70,5% des Stimmvolks eine weitere Überfremdungs-Initiative ab. 1988 und 2000 gab es zwei weitere Urnengänge zum Thema. Auch diese Initiativen fanden keine Mehrheit.

Am 9. Februar 2014 sagt eine hauchdünne Mehrheit des Stimmvolks hingegen Ja zur Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) «Gegen Masseneinwanderung». Kernelement dieser Initiative ist die Wiedereinführung von Kontingenten für Einwanderer.

Unter dem Namen «Stopp der Überbevölkerung – zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen» wurden 2012 die nötigen Unterschriften für eine Volksinitiative des Vereins Ecopop eingereicht. Gemäss Initiativtext darf das Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung infolge Zuwanderung nicht über 0,2% pro Jahr liegen. Das Datum der Abstimmung über diese Initiative ist noch nicht bekannt.

Diese Klausel sorgte in der Schweiz für hitzige Diskussionen. «Das Abkommen von 1964 markiert einen Paradigmenwechsel: Von der Rotation der ausländischen Arbeitnehmer zur Integration», sagt Silvia Arlettaz, Professorin für Geschichte an der Universität Freiburg und Autorin mehrerer Bücher über die Geschichte der Immigration in der Schweiz.

«Doch dieses Abkommen war gleichzeitig der Funke, der den Anti-Einwanderungs-Kräften nationales Rampenlicht brachte und schliesslich in den Überfremdungsinitiativen endete», so Arlettaz.

Migrationsboom in der Nachkriegszeit

Die Schweizer Wirtschaft hatte den Zweiten Weltkrieg ohne grössere Schäden überstanden. Und sie konnte in der Nachkriegsphase unmittelbar von der positiven Konjunktur profitieren. Doch um an diesem Boom teilzuhaben, war sie auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen.

Die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte erfolgte traditionsgemäss im südlichen Nachbarland. Schon im 19. Jahrhundert hatte die Schweiz im Bedarfsfall auf Fremdarbeiter aus Italien zurückgegriffen.

Im Jahr 1910 lebten mehr als 200’000 Italiener in der Schweiz. Während den beiden Weltkriegen war ihre Zahl auf unter 100’000 gefallen, doch ab 1945 wuchs diese Gemeinschaft erneut. 1950 belief sich die Zahl der in der Schweiz lebenden Italiener auf 140’000, zehn Jahre später auf gut 346’000 und 1970 auf rund 600’000.

Um die Rekrutierung von Arbeitskräften zu regeln, hatte die Schweiz bereits 1948 ein erstes Abkommen mit Italien unterzeichnet. Das leitende Prinzip bei diesem Abkommen war der Grundsatz des temporären Arbeitseinsatzes in der Schweiz. Eine ständige Niederlassungsbewilligung war erst nach 10-jährigem Aufenthalt in der Schweiz möglich.

Die eidgenössischen Behörden versuchten auf diese Weise, die Notwendigkeit zur Rekrutierung und den Zustrom ausländischer Arbeitskräfte mit einer Immigrationspolitik zu versöhnen, die seit den Zwischenkriegsjahren der Angst vor «Überfremdung» Rechnung trug.

Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt

Zu Beginn der 1960er-Jahre stiess diese Politik des Ausgleichs jedoch an ihre Grenzen. In der Schweizer Bevölkerung stieg einerseits das Unwohlsein wegen der Präsenz von Immigranten. Das starke Wirtschaftswachstum, das an die ausländischen Arbeitskräfte gekoppelt war, liess Ängste vor einer Inflationsspirale aufkommen. Der Druck auf Ausländer stieg.

Italien hatte andererseits seit 1961 Anstrengungen unternommen, um das Migrationsabkommen mit der Schweiz zu revidieren. Insbesondere sollten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der italienischen Gastarbeiter in der Schweiz verbessert werden.

Diese Forderungen erfolgten auf dem Hintergrund einer guten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Europa und dem Fortschreiten des europäischen Einigungsprozesses. Italienern standen so neue Arbeitsmöglichkeiten in ganz Europa offen.

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Im November 1961 merkte der damalige Bundesrat Friedrich Wahlen an, dass die italienische Delegation, die zur Diskussion über die Revision des Migrationsabkommens angereist war, «unter anderem mit Konzessionen operierte, die Italien von Seiten Frankreichs und der deutschen Bundesrepublik gemacht worden seien und mit dem Prospekt der Harmonisierung der Arbeits- und Niederlassungsbewilligungen im EWG-Raum».

«Die Schweizer Regierung stand in diesem Moment von zwei Seiten unter Druck», meint der Historiker Sacha Zala, Direktor der Edition «Diplomatische Dokumente der Schweiz». «Auf der einen Seite innenpolitisch, da die Anti-Einwanderungskräfte, die in den Überfremdungs-Initiativen mündeten, immer stärker wurden. Auf der anderen Seite gab es die Konkurrenz mit anderen europäischen Ländern, die ebenfalls um ausländische Arbeitskräfte warben.»

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Bescheidene Zugeständnisse

Anfang der 1960er-Jahre erweiterte die Schweiz ihre Rekrutierungspolitik auf neue Länder – 1961 wurde ein Abkommen mit Spanien abgeschlossen. Doch der Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt war nach wie vor entscheidend für eine Volkswirtschaft, die auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen war.

Die Verhandlungen zwischen Bern und Rom zur Revision des Migrationsabkommens waren langwierig und kompliziert. Einzig der 1962 gestellte Antrag der Schweiz auf Assoziation über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) milderte den Druck der italienischen Verhandlungspartner vorübergehend. Im Januar 1963 zog die Schweiz diesen Antrag aber bereits wieder zurück.

Schliesslich unterzeichneten Italien und die Schweiz am 10. August 1964 das neue Migrationsabkommen. Der Bundesrat war überzeugt, einen guten Kompromiss ausgehandelt zu haben. «Dabei sind die Konzessionen, die die Schweiz gemacht hat, meines Erachtens relativ bescheiden. Sie unterschreiten jedenfalls alle italienische Postulate und Wünsche», schrieb der damalige Bundesrat Schaffner.

Hitzige Diskussionen

Auf die Nachricht vom Abschluss des Vertrags folgten jedoch hitzige Diskussionen. Zankapfel war vor allem die Klausel zum Familiennachzug. Diverse Parteien monierten, dass der Familiennachzug im Kontrast zur Migrationspolitik der Regierung stünde, wonach die Zahl der Immigranten in der Schweiz reduziert werden sollte.

Sogar das Schweizer Parlament zögerte lange mit der Ratifizierung des Abkommens. Dies zog den Protest der italienischen Regierung nach sich, die zudem befürchtete, dass die Kommunistische Partei aus diesem Zustand Profit schlagen könnte. Im Januar 1965 verlangte auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund eine maximale Anzahl von 500’000 ausländischen Arbeitnehmern in der Schweiz.

Die Schweizer Regierung reagierte ihrerseits mit einer Doppelstrategie. Einerseits zeigte sie sich eisern gegenüber Immigranten, die nicht hundertprozentig die Kriterien für einen Aufenthalt in der Schweiz erfüllten. Anfang 1965 wurden etwa 2000 Italiener an den Grenzübergängen von Chiasso und Brig zurückgewiesen. Und im Februar wurde den Schweizer Unternehmen eine Reduktion der ausländischen Arbeitskräfte von fünf Prozent verordnet.

Andererseits verwies die Schweizer Regierung in der begleitenden Botschaft zum Migrationsabkommen zu Handen des Parlaments darauf hin, dass Anstrengungen in Bezug auf eine Assimilierung nötig seien. «Jahrelang haben wir diese Dinge nur aus einer wirtschaftlichen Warte angeschaut. Es ist Zeit, auch die humanen Aspekte dieser Frage zu berücksichtigen.»

Im März 1965 wurde das Abkommen schliesslich vom Schweizer Parlament ratifiziert. Und in den Folgejahren wurden die Zugeständnisse für die italienischen Arbeitnehmenden auch auf andere Arbeitskräfte aus der Europäischen Gemeinschaft ausgeweitet.

Doch die Debatte um die Einwanderung dominierte weiterhin die Innenpolitik, auch im Zuge der von James Schwarzenbach lancierten Überfremdungs-Initiative, die 1970 vom Schweizer Stimmvolk knapp abgelehnt wurde.

«Die Schwarzenbach-Initiative kam zu einem Zeitpunkt der wirtschaftlichen Überhitzung. Sie nutzte die Ängste gegenüber den Einwanderern aus, die bei einem Teil der Bevölkerung vorhanden waren», meint Silvia Arlettaz. Und weiter: «Man sprach damals noch nicht, wie heute, von vollen Zügen oder überlasteten Autobahnen. Man sprach eher von Nachbarn, die ‹O sole mio!› sangen oder Spaghetti kochten. Die Analogien zu heute liegen aber auf der Hand.»

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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