Zwischen Bestrafung und Wiedereingliederung
Berichte über ein luxuriöses Resozialisierung-Programm für den gewalttätigen jungen Straftäter "Carlos" hat jüngst in der Schweizer Öffentlichkeit und Politik für Empörung gesorgt. Delinquenten – und auch die Gesellschaft – scheinen von dieser Behandlungsart aber zu profitieren.
Was soll mit gewalttätigen Teenagern geschehen? Sollen sie bestraft oder wieder eingegliedert werden? Oder beides? Offiziell haben «Schutz und Erziehung» für junge Straftäter in der Schweiz Priorität.
«Im Schweizer System haben Rehabilitation und Reintegration einen sehr hohen Stellenwert», sagt Allan Guggenbühl, Psychologe und Gründer des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich, gegenüber swissinfo.ch.
«Im Vergleich zu anderen Ländern wie etwa den USA geht es in der Schweiz in erster Linie darum, wie Jugendliche wieder integriert werden können», sagt der Experte. Er weist darauf hin, dass der Prozentsatz von verurteilten Jugendlichen, die nur einmal straffällig wurden, «sehr hoch» sei.
«Einige Programme beinhalten regelmässige Aggressionsbewältigung. Bei anderen gehen die jugendlichen Straftäter aufs Land, in die Berge. Früher gingen sie auch ins Ausland, aber das wird nicht mehr praktiziert. Andere Programme setzten den Schwerpunkt auf Arbeit.»
Obwohl Bildung mehr Gewicht habe als Bestrafung, absolvierten junge Straftäter nur selten eine akademische Laufbahn, so Guggenbühl. Denn in der Regel seien sie in der Schule wenig erfolgreich. «Das wichtigste ist, dass sie eine Art Berufslehre machen können.»
Es geht in erster Linie um Schutz und um Erziehung, deshalb werden Jugendliche häufig nicht im eigentlichen Sinne bestraft, stattdessen werden erzieherische Massnahmen angeordnet.
Seit dem 1. Januar 2011 ist die so genannte Jugendstrafprozess-Ordnung in der ganzen Schweiz einheitlich geregelt.
Die so genannte Strafmündigkeit ist das Alter, ab welchem jemand für eine Handlung, die das Gesetz mit einer Strafe verfolgt, bestraft werden kann. Kinder bis zum 10. Geburtstag sind nicht strafmündig.
Ob eine Reaktion auf das Tun eines noch nicht 10-jährigen Kindes nötig ist, liegt in der Kompetenz der Eltern. Allenfalls kann die Vormundschaftsbehörde eine so genannte Kindesschutzmassnahme anordnen. Die strafrechtliche Verantwortung in der Schweiz beginnt mit dem 10. Geburtstag.
Das Jugendschutzgesetz kennt zwei Sanktionsformen: Schutzmassnahmen und Strafen. Schutzmassnahmen beinhalten Aufsicht und persönliche Betreuung, ambulante Behandlung, Unterbringung bei Privatpersonen oder in Erziehungs- oder Behandlungseinrichtungen.
(Quelle: ch.ch)
Rückfälligkeit
Im letzten Jahr wurden in der Schweiz 11’883 Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren wegen unterschiedlicher Delikte verurteilt, im Jahr 2010 waren es noch 14’464 gewesen. 80% waren männlich und 68% Schweizer.
Die Rückfallquote lag in den letzten Jahren stets bei rund 35%. Gemäss dem Bundesamt für Statistik wird jemand als rückfällig bezeichnet, wenn er innert drei Jahre nach einer Verurteilung wieder straffällig wird. In Grossbritannien lag die Rückfallquote 2011/2012 bei jugendlichen Delinquenten, die innert einem Jahr nach ihrer Entlassung erneut straffällig werden, bei 73%.
Heisst das nun, dass das Schweizer System funktioniert? «In der Regel ja», sagt Guggenbühl. «Denn der Anteil jugendlicher Straftäter, die ins Gefängnis müssen, ist tiefer als in Grossbritannien oder den USA. Auch die Anzahl Delikte ist tiefer. Das bedeutet, dass es für viele junge Leute funktioniert.»
Im Kanton Zürich etwa ging die Zahl strafrechtlicher Verurteilungen zwischen 2009 und 2012 von 4047 auf 3417 zurück.
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Männer hinter Mauern
Herausforderungen
Allerdings geht all dies nicht ohne grossen Aufwand: die geeignete Platzierung der einzelnen Straftäter ist schwierig, die meisten Institutionen sind privat, die interkantonale Koordination ist mangelhaft, und die hohen Kosten sind gegenüber der Politik und einer skeptischen Öffentlichkeit nur schwierig zu rechtfertigen.
«Wir suchten immer nach der besten Lösung, aber die Institutionen kaufen keine Katze im Sack», sagt Beat Burkhardt, Leiter der Basler Jugendanwaltschaft. «Wenn wir mit einem Jugendlichen auftauchen, der sich auffällig benimmt, und erklären, wo er schon überall gewesen ist, dann lehnen viele ab.»
Christian Perler, Leiter der 2011 in Basel gegründeten und schweizweit einzigen Fachstelle für Kinder- und Jugendforensik, sieht das grösste Problem darin, eine Balance zwischen Disziplin und Flexibilität zu finden.
«Die Erwachsenenwelt herausfordern und Regeln und Grenzen testen gehören zur Jugend», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Und wir müssen die Balance halten zwischen klaren Regeln und der Tatsache, dass die Jugendlichen diese Regeln bis zu einem gewissen Grad auf die Probe stellen.»
Empörend
Am meisten aber machen die Preise Schlagzeilen. Für Carlos beliefen sich die Kosten für die Steuerzahler auf 29’200 Franken pro Monat, inklusive 1000 Franken Taschengeld und tägliches Thaibox-Training.
Dies wurde von einem Teil der Bevölkerung und vielen Medien als grundsätzlich ungerecht und als Signal interpretiert, dass Verbrechen sich auszahlten. Das Sonderprogramm wurde gestoppt und Carlos musste zurück ins Gefängnis.
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Resozialisierungskosten für jugendlichen Straftäter
Aber auch weniger extreme Programme sind nicht günstig. Marcel Riesen, Oberjugendanwalt des Kantons Zürich, setzt die durchschnittlichen Kosten für eine Person in einer geschlossenen Einrichtung auf 20’000 Franken im Monat.
Eine Platzierung in Perlers Sektion in Basel, die intensive Therapien für 10 Straftäter anbietet, kostet 1450 Franken am Tag. Es handelt sich häufig um Insassen, die von allen anderen Institutionen abgelehnt wurden.
Guggenbühl gibt zu, dass es «etwas problematisch» sei, den Steuerzahler davon zu überzeugen, dass solche Programme ihren Preis wert sind.
«Der Betrag, der für Carlos ausgegeben wurde, ist skandalös, total aussergewöhnlich», sagt er. «Ich habe mit vielen Programmen zu tun, und die kosten viel, viel weniger. Auch die Mehrheit der Jugendanwaltschaften würden es nie zulassen, dass Box-Training bezahlt wird. Das ist absurd. Ich hatte mehrere jugendliche Straftäter, die ihre privaten Boxstunden bezahlt haben wollten und die Behörden dies nicht erlaubten.»
Dennoch ist Hansueli Gürber, Leiter der Stadtzürcher Jugendanwaltschaft, überzeugt, dass das Programm für Carlos ein Erfolg war. Gürber hatte Morddrohungen erhalten, nachdem der Fall publik geworden war und arbeitet zur Zeit wegen Herzproblemen nur Teilzeit.
«Wir brachten ihn immerhin soweit, dass er 24 Monate lang nie straffällig wurde – nach fünf Jahren, in denen er 34 Mal gegen das Gesetz verstossen hatte. Diese Methode hätte funktioniert», so Gürber.
Investitionen
Auch wenn Guggenbühl den Summen im Fall Carlos kritisch gegenübersteht, ist er dennoch der Meinung, dass sich diese Programme über kurz oder lang im Prinzip auszahlen.
«Kurzfristig helfen sie, Kosten einzusparen, da die Straftäter nicht im Gefängnis sind. Ein Tag im Gefängnis kostet eine enorme Menge Geld. In Kalifornien realisieren sie nun, dass sie nicht in der Lage sind, für all diese jungen Menschen aufzukommen, die eingesperrt sind», sagt Guggenbühl.
«Und langfristig müssen wir verhindern, dass diese jungen Leute als Kriminelle enden. Man muss sie irgendwie auf den richtigen Weg bringen, das heisst, sie müssen eine Arbeit haben, ein regelmässiges Einkommen und in ihr gesellschaftliches Umfeld integriert sein.»
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
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