Zwischen den Zeilen wird es eng und enger für Bern
"Konsultationen ja, Verhandlungen nein": Brüssel zeigte sich am Montag beim Besuch von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga in der EU-Zentrale unnachgiebig, was Neuverhandlungen des freien Personenverkehrs angehen. Die Schweiz will dieses EU-Grundprinzip aufgrund der Abstimmung vom 9. Februar 2014 einschränken. Damals sagte das Schweizer Volk Ja zu Zuwanderungskontingenten.
Verpackung und Inhalt sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Es war ein ungewöhnlich dicker Kuss, den EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker am 2. Februar am EU-Sitz seinem Gast Simonetta Sommaruga vor laufenden Kameras auf die Backe drückte.
Aber die Zuneigung des Luxemburgers zur Schweiz hat Grenzen. Und die sind seit Montag noch ein Stück klarer.
Ein Jahr nach dem Ja des Schweizer Stimmvolkes zur Initiative «gegen Masseneinwanderung» hat Junker der Schweizer Regierung seine «vier Wahrheiten» nachdrücklich in Erinnerung gerufen: Wie dies unter Freunden üblich sei, sollten die Schweiz und die EU weiter miteinander sprechen in der Hoffnung, «die Schweiz aus einer sehr schlechten Situation herauszuholen». Aber auf keinen Fall werde die EU das Prinzip des freien Personenverkehrs mit Bern antasten.
Genau darauf setzt aber der Bundesrat, nämlich auf eine Ausnameregelung in Form einer Schutzklausel, wie sie Brüssel Monaco oder Liechtenstein gewährt.
Die Schweiz und die EU «sind nicht im Krieg» seit dem 9. Februar 2014, unterstrich Junker. Er verpflichtete sich für die Fortsetzung des «hoffentlich fruchtbaren» Gedankenaustausches auf höchster Ebene. Aber er sei nicht über Gebühr optimistisch, die Stränge betreffend Freizügigkeit entwirren zu können. Im Klartext: «Im Moment haben wir unsere Standpunkte nicht annähern können», was die Schwierigkeiten betreffe, welche die Schweiz heraufbeschworen habe. Man werde das Thema gerne und regelmässig diskutieren. Aber, so Junker mit aller Deutlichkeit, die Kommission werde keine «eigentlichen Verhandlungen» aufnehmen. Denn dies würde bedeuten, dass die EU die berühmte Büchse der Pandora öffnen würde. Dies habe bereits Grossbritannien erfolglos versucht, wo der freie Personenverkehr ebenfalls in der Kritik stehe.
Schweizer Presse ernüchtert
Nach dem Besuch von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga vom 2. Februar in Brüssel machten sich die Kommentatoren der Schweizer Zeitungen null Illusionen darüber, dass die Schweiz bei der EU betreffend Einwanderer-Kontingente auf offene Ohren stösst.
Die Begrenzung steht seit dem Ja des Schweizer Volkes vom 9. Februar 2014 zur Initiative «gegen Masseneinwanderung» in der Bundesverfassung.
«Die Annäherung von Juncker ist nur körperlich», schrieb der Blick, anspielend auf den etwas zu dick geratenen Kuss, den EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker der sichtlich verdutzten Sommaruga vor laufenden Kameras auf die Wange drückte.
«Nach dem warmen Kuss die kalte Schulter», fasst die Aargauer Zeitung zusammen.
La Liberté aus Freiburg spricht vom «baiser trompeur des Européens à la Suisse» – einem Kuss, mit dem die Europäer die Schweiz täusche.
«Gespräche, aber keine Annäherung», resümierte die Neue Zürcher Zeitung.
«Herzlich war nur die Begrüssung», so die Berner Zeitung.
«Die EU testet die Entschlossenheit», titelte Die Südostschweiz trocken.
Die Neue Luzerner Zeitung: «Sommaruga beisst in Brüssel auf Granit.»
«EU-Kommission bleibt hart in der Sache», so die Basler Zeitung .
«Sommaruga kehrt mit leeren Händen zurück», schreiben der Tages-Anzeiger und Der Bund. «Ein Jahr nach der Abstimmung über die Zuwanderungsinitiative wäre es Zeit, Illusionen zu begraben».
swissinfo.ch
Ganzes Haus in Gefahr
Damit verteidigte Junker die harte Linie, welche die Aussenminister der 28 EU-Länder letzten Dezember aufgestellt haben.
Sie erteilten sämtlichen Anfragen der Schweiz, das Abkommen über die Personenfreizügigkeit von 1999 neu zu verhandeln mit dem Ziel, darin Kontingente aufzunehmen, eine klare Absage.
Die EU-Aussenminister warnten gar unverhohlen, dass die Umsetzung der Abstimmung das «Herz der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU treffen» könne, nämlich die sieben Bilateralen Abkommen von 1999. Diese unterliegen der so genannten Guillotine-Klausel, die besagt, dass die Aufkündigung eines Abkommens die Aufhebung aller anderen nach sich ziehe.
Die Schweizer Regierung will am 11. oder 18. Februar über das weitere Vorgehen informieren. Für die Umsetzung des Votums bleiben ihr noch exakt zwei Jahre. Angesichts des Spagats, den einerseits das harte Diktum Brüssels, andererseits das Votum der Schweizer Stimmbürger erfordern, eine ziemlich sportliche Herausforderung.
In den Worten von Simonetta Sommaruga vor der Presse in Brüssel tönte dies so: «Die Positionen sind sehr weit voneinander entfernt, und der Handlungsspielraum ist sehr eng.»
Sie freute sich immerhin über den «ersten Schritt», der ihr gelungen sei, «man werde den Dialog fortsetzen.» Das ist wenig, aber besser als nichts.
Knoten, nichts als Knoten
Fast vergessen ging, dass die Schweiz mit Brüssel in delikaten Verhandlungen über institutionelle Fragen steckt. Der EU geht es dabei um die Stärkung des EU-Binnenmarktes. Die institutionellen Fragen umfassen Mechanismen zur automatischen Übernahme von EU-Recht sowie Schiedsverfahren im Streitfall. Bern aber lehnt «fremde Richter» ab, was die Sache noch zusätzlich kompliziert.
«Ohne institutionellen Rahmen wird es keine neuen Abkommen zur Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt geben», machten die EU-Aussenminister klar.
Vor einigen Tagen hatte der EU-Energiekommissar Miguel Arias Canete der Schweizer Energieministerin die Zuckerbrot-und-Peitsche-Taktik vorexerziert. Beim Besuch von Doris Leuthard in Brüssel zeigte sich Canete zum Abschluss eines «provisorischen Abkommens» zum Eintritt der Schweiz in den EU- Strommarkt bereit. Damit wäre die Schweiz dem wichtigen Market Coupling (Marktkoppelung) angeschlossen. Dieses Instrument soll ab Juni dieses Jahres einen effizienten, regions-übergreifenden Strommarkt ermöglichen.
Aber die Bedingungen, die der Kommissar für ein solches Interim-Abkommen stellte, waren enorm hoch: Lösung der institutionellen Fragen im Strommarkt-Bereich, besonders die Punkte Staatshilfen und Schiedsverfahren im Streitfall. Leuthard bezeichnete diese Vorgaben als «sehr hart».
Als ob diese Probleme nicht schon schwierig genug sind, hängt über den komplizierten Beziehungen zwischen Bern und Brüssel immer noch die Drohung, welche die EU-Aussenminister im letzten Dezember gemacht haben: Verletze die Schweiz das sakrosankte Prinzip des freien Personenverkehrs, «behalten wir uns das Recht vor, sämtliche Verhandlungen über das institutionelle und alle weiteren Dossiers zu beenden, die den Binnenmarkt zum Inhalt haben». Brüssel hat gesprochen.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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