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«Ein instabiles Lateinamerika wäre das Letzte, was die Welt jetzt braucht»

Zwei Mädchen auf dem Dach
12-jährige Zwillinge stehen 2021 auf dem Dach eines von den Hurrikanen Eta und Iota zerstörten Hauses in La Reina, Honduras. Copyright 2021 The Associated Press. All Rights Reserved.

Die Schweiz stellt die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika bis Ende 2024 ein. Was dies für die Region bedeutet, haben wir Ira Amin von der Schweizer NGO Vivamos Mejor gefragt.

Die Schweiz beendet ihre bilaterale Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Ira Amin arbeitet bei einem Schweizer Hilfswerk, das sich hingegen ganz auf Lateinamerika konzentriert.

Vivamos Mejor ist ein Schweizer Hilfswerk, das sich für bessere Lebensbedingungen in Lateinamerika einsetzt. Die Stiftung wurde 1981 von einem Arzt gegründet und ist Zewo-zertifiziert. Vivamos Mejor leistet armutsbetroffenen Gemeinschaften in Guatemala, Kolumbien, Nicaragua und Honduras befristete «Hilfe zur Selbsthilfe». Das Hilfswerk bereitet Kleinkinder für die Einschulung vor, hilft jungen Menschen, den Sprung ins Erwerbsleben zu schaffen und unterstützt rurale Gebiete beim nachhaltigen Umgang mit Wasser, Boden und Wald.

swissinfo.ch: Ist der Rückzug der Schweiz aus Lateinamerika bereits spürbar? 

Ira Amin: Gemäss unseren Informationen führt die schweizerische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA die laufenden Verträge bis 2024 weiter, daher ist es noch zu früh, etwas über die Auswirkungen des Rückzugs zu sagen. 

Ira Amin
Ira Amin hat Internationale Beziehungen in Genf studiert. Seit 2018 ist sie Bereichsleiterin bei Vivamos Mejor und setzt das Programm der NGO strategisch um. Davor war sie in der Entwicklungszusammenarbeit und Humanitären Hilfe tätig, unter anderem beim UNHCR und der Caritas Schweiz. Stephan Knecht

Es hiess immer, die Schweiz versuche, ihre Projekte an andere Länder, NGOs oder internationale Organisationen abzugeben. Übernimmt Vivamos Mejor jetzt DEZA-Projekte?

Nein, im Zusammenhang mit dem Rückzug übernehmen wir direkt keine Projekte der DEZA.

Ist Vivamos Mejor vom Rückzug der Schweiz betroffen, müssen also Projekte eingestellt werden?

Nein, unsere Projekte sind vom Ausstieg nicht betroffen. Wir erhalten von der DEZA einen Programmbeitrag für die Phase 2021-2024.

Wird dieser weiterhin fliessen?

Gemäss DEZA sind die Programmbeiträge unabhängig vom Rückzug der bilateralen Zusammenarbeit. Die Bewerbung für die nachfolgende Programmphase 2025-2028 startet aber im 2023, es ist deshalb noch zu früh, um dazu Aussagen zu machen.

Was passiert denn mit den DEZA-Projekten, wer schliesst die Lücke?

Gemäss der DEZA-Kommunikation, die wir erhalten haben, wird ihr Portfolio von der spanischen Kooperation übernommen. 

Das sagt das Aussendepartement

Das EDA schreibt auf Anfrage von swissinfo.ch: «Es ist nicht geplant, dass Spanien die Mehrheit der DEZA-Projekte übernimmt.» Die Projekte in Lateinamerika würden wie geplant bis Ende 2024 abgeschlossen. «Es wird Projekte geben, die anschliessend je nach Land an nationale oder internationale Partner übergehen, die diese entweder weiterführen, oder entsprechend ihrer Strategie adaptieren.»

Also ist der Rückzug über das Ganze gesehen gar nicht so schlimm?

Laut DEZA betrifft der Ausstieg in erster Linie die bilaterale Zusammenarbeit, so wurde es uns jedenfalls kommuniziert. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco bleibt in Lateinamerika tätig. 

Trotzdem bedauern wir den Entscheid der Schweiz, sich aus der bilateralen Zusammenarbeit zurückzuziehen. Denn die Bedürfnisse der Menschen sind nach wie vor gross. Die Corona-Krise hat ganz Lateinamerika in eine wirtschaftliche Schieflage gebracht und soziale Fortschritte von zehn Jahren zunichtegemacht. 

Dazu kommt: Viele öffentliche Geldgeber wie Gemeinden und Kantone richten ihre Unterstützung nach den Schwerpunktregionen der DEZA aus. Wir hoffen, dass die anderen Geldgeber auch nach 2024 ihren Fokus auf Lateinamerika legen werden, auch wenn die DEZA nicht mehr dort tätig ist.

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Die geopolitische Situation ist momentan schwierig. Kommt der Rückzug zu einem ungünstigen Zeitpunkt?

Wir von Vivamos Mejor haben uns schon 2019, als die DEZA den Ausstieg aus Lateinamerika ankündigte, gemeinsam mit anderen NGOs in einem offenen Brief für den Verbleib in Lateinamerika ausgesprochen. Wir bedauern den Ausstiegsentscheid damals wie heute.

Aber Sie haben Recht, dass globale Krisen die Situation verschärfen. Die Wachstumsprognosen für Lateinamerika nach der Corona-Pandemie sind düster. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik prognostiziert eine niedrige Wachstumsrate von unter 3 Prozent. Dies sind circa 2 Prozent tiefer als vor der Coronakrise.

Der Ukraine-Krieg verschärft die Nahrungsmittelknappheit. Gemäss dem UN Globalnetzwerk gegen Ernährungskrisen werden die zentralamerikanischen Länder in den nächsten Jahren von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sein. Alle unsere Einsatzländer in Lateinamerika erwarten eine höhere Inflationsrate. Das bedeutet, dass die Kaufkraft der lokalen Bevölkerung gemindert und die sozialen Spannungen angeheizt werden.

In Nicaragua zum Beispiel erwartet die Weltbank eine Zunahme der Inflation um 6 Prozent. Der autokratisch regierte Staat isoliert sich immer mehr. Seit der politischen Krise 2018 sind über 150’000 Menschen aus dem Land geflüchtet. Die Regierung hat zudem allein seit 2021 über tausend NGOs zwangsgeschlossen.

Menschen im Regen
Nicaraguanische Asylsuchende in Costa Rica im August 2022. Seit Ausbruch politischer Proste 2018 und verstärkt seit dem Sommer 2021, als Nicaraguas Präsident Daniel Ortega im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Dutzende von politischen Gegner:innen einsperrte, fliehen Zehnttausende in die Nachbarländer. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved

Die globalen Krisen treffen Subsahara-Afrika aber auch stark und die DEZA argumentiert, dass durch den Rückzug der Schweiz aus Lateinamerika Mittel frei werden für Subsahara-Afrika. Warum also doch Zentralamerika?

Weil es eine der Regionen ist, die weltweit am meisten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen ist. Nach den Hurricanes Eta und Iota Ende 2020 verloren Hunderttausende Menschen ihr Obdach. Der Klimawandel bringt auch Herausforderungen im Bereich Ernährungssicherheit. Die globalen Krisen prasseln so verstärkt auf die Bevölkerung nieder. Das müsste man berücksichtigen.

Zerstörte Häuser
Durch den Hurrikan Iota 2020 verursachte Schäden in Providencia (Kolumbien). Keystone / Presidency Of Colombia Handout

Die Ungleichheiten innerhalb eines Landes sind zunehmend krasser als die Wohlstandsunterschiede zwischen den Staaten. Hätte die Schweiz das bei der Wahl der Schwerpunktländer Ihrer Meinung nach berücksichtigen müssen? 

Ja, unserer Ansicht nach wäre es wichtig, dass wir auch die innergesellschaftlichen Ungleichheiten bei der Wahl von Schwerpunkten stärker berücksichtigen. Nationale Länderzahlen kaschieren, dass es einigen Bevölkerungsteilen schlecht geht. 

Reiche und arme Häuser
Luftaufnahme eines Wohnviertels neben einer Siedlung in der Gemeinde Jocotenango. Die soziale Ungleichheit in Guatemala ist hoch, 59% der Bevölkerung leben in Armut. Keystone / Esteban Biba

Wir befürworten eine wirtschaftliche Entwicklung, aber es ist wichtig, dass alle davon profitieren. Ein Land kann wirtschaftlich wachsen, aber gleichzeitig können die wirtschaftlichen Ungleichheiten wachsen.

Und das ist gefährlich: Je grösser die sozialen Unterschiede in Lateinamerika wachsen, desto grösser ist das Risiko von politischen Unruhen, wie wir in Kolumbien und Nicaragua gesehen haben. Es wäre besser, Brände zu vermeiden, als Feuer zu löschen. Das Letzte, was die Welt jetzt braucht, ist noch eine instabile Weltregion. Es wäre wichtig, Lateinamerika nicht zu vergessen.

Europa ist jetzt aber mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt.

Es ist schon so. Lateinamerika ist geografisch nicht so nah, die Schweizer Medien berichten weniger. 

Der Krieg in der Ukraine hat auch Auswirkungen auf Lateinamerika. Die Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise sind stark gestiegen, das trifft die ärmste Bevölkerung innerhalb eines Landes am stärksten. Das ist auch in Lateinamerika der Fall. Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik sieht voraus, dass der Anteil verletzlicher Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika auf 33,7 Prozent steigen könnte in diesem Jahr. 2014 lag diese Quote bei 27,8 Prozent. Wir sehen also deutliche Rückschritte.

Wie geht es der indigenen Bevölkerung in Mittelamerika und anderen Ländern, wo sich die wirtschaftliche Macht auf eine Handvoll Familien konzentriert?

In unserem Projektgebiet in Guatemala sind 66 Prozent der indigenen Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt. 

Zwei Frauen und ein Kind
Ernährungsberaterin Daniela Tanchez (24) gibt Manuela Empfehlungen für die Familie, die an akuter Unterernährung leidet. ©2022, Morena Pérez Joachin, All Rights Reserved

Auch 25 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ist Armut und Unterernährung weit verbreitet. Überproportional davon betroffen ist die ländliche und indigene Bevölkerung. Deshalb konzentrieren sich unsere Projekte auf diese Menschen, um ihre Bildungs- und Lebensbedingungen zu verbessern.

Die Schweiz richtet derzeit ihre bilaterale Entwicklungszusammenarbeit geografisch fokussierter aus. Die Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2021-2024 definiert vier Schwerpunktregionen: Nordafrika und Mittlerer Osten, Subsahara-Afrika, Asien sowie Osteuropa. Lateinamerika gehört im Unterschied zu früher nicht mehr dazu.

Bis Ende 2024 stellt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) die Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika ein. Einige Projekte werden an nationale oder internationale Partner übergeben. Eine weiterlaufende Überprüfung der Projekte durch die Schweiz ist nicht vorgesehen.

Durch den Rückzug aus Lateinamerika kann die Schweiz – so die Argumentation des Bundes – ihre Mittel konzentrierter einsetzen, insbesondere in Subsahara-Afrika, wo der Bedarf an Entwicklungszusammenarbeit laut EDA am grössten ist.

Die humanitäre Hilfe sowie Massnahmen zur Förderung des Friedens und der menschlichen Sicherheit behalten ihren universellen Auftrag bei. So wird etwa in Haiti wegen der schwierigen Sicherheitslage angestrebt, die internationale Zusammenarbeit in ein humanitäres Programm zu überführen.

Quelle: EDAExterner Link

Editiert von Balz Rigendinger

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