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Russischer Experte: Wenn die Drohnen-Chips nicht aus der Schweiz kommen, dann von woanders

Mann draussen auf der Strasse
Militärexperte und Kritiker des Kremls: Walerij Schyrjajew, der stellvertretende Direktor der unabhängigen russischen Zeitung "Nowaja Gaseta", die nur noch ausserhalb Russlands erscheinen kann. Courtesy of Valery Shiryayev

Die von der russischen Armee zuhauf eingesetzten Lancet-Drohnen bereiten der Ukraine Kopfzerbrechen. Die sehr effektiven Flugwaffen sind auch mit Computer-Chips aus der Schweiz ausgestattet. Würde Russland geschwächt, wenn es keine solchen Teile mehr erhalten würde? Einschätzungen des russischen Militärexperten Walerij Schyrjajew.

Walerij Schyrjajew ist stellvertretender Direktor der unabhängigen russischen Zeitung «Nowaja Gaseta». Die Behörden hatten der Zeitung die Drucklizenz entzogen, so dass sie nur noch ausserhalb Russlands erscheinen kann.

SWI swissinfo.ch: Welche Rolle spielen unbemannte Luftfahrzeuge (UAVs), die auch als Drohnen bezeichnet werden, im Krieg in der Ukraine?

Walerij Schyrjajew: Dieses spezifische System der Kriegsführung kam für die Vereinigten Staaten völlig unerwartet. Ganz anders dagegen für Russland. Diese neue Waffenklasse, die bisher als unbedeutend galt, spielt plötzlich eine grosse Rolle. Die einfachsten Drohnen können Geschwindigkeiten von 100 bis 120 Kilometer pro Stunde erreichen.

Sie werden direkt von einem Operator geflogen und können bis zu fünf Kilometer in das gegnerische Gebiet vordringen. Der grösste Schaden an den Frontlinien der Truppen im Krieg in der Ukraine wurde durch solche Geräte angerichtet und nicht durch supermoderne, teure und komplexe Geräte, in die chinesische, koreanische und andere Streitkräfte investiert haben.

Lancet Drohne
Kai Reusser / swissinfo.ch

Teuer bedeutet also nicht unbedingt gut?

Das Verhältnis zwischen Qualität und Preis begann sich während des amerikanischen Krieges im Irak zu ändern: Die Auftragnehmer der US-Armee vor Ort wurden gebeten, die irakische Infrastruktur und Bomben zu minimalen Kosten zu zerstören. Sie begannen, in Supermärkten gekaufte 20-Dollar-Spielzeuge zu verwenden, an denen sie mit Klebeband einen ferngesteuerten Motor und eine GoPro-Kamera befestigten.

So entstand ein Gerät, das sich einem Objekt nähern und es sicher von allen Seiten inspizieren kann. Danach trennten sie die Kamera ab und brachten stattdessen eine Sprengladung zum Auslösen an. Das Spielzeug näherte sich noch einmal dem Ziel, explodierte und das war’s. Es handelt sich um einen Wegwerfartikel, der hundert- oder tausendmal weniger kostet als ein komplexes Gerät, das die US-Armee ursprünglich ihren Auftragnehmern zur Verfügung stellte.

Für das Militär ist der wichtigste Indikator für eine Waffe ihre Wirksamkeit, nicht ihre Kosten. Ich habe errechnet, dass die Komponenten, aus denen eine iranische Shahed 136-Drohne besteht, 1500 Euro kosten, und zwar ohne Sprengstoff.

Wie Schweizer Chips immer noch ihren Weg in russische Drohnen finden, lesen Sie hier:

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Einfache Technologie wird auch im Krieg in der Ukraine eingesetzt.

Der Krieg in der Ukraine beweist, dass Einfachheit genügt. Sowohl Russland als auch die Ukraine setzen Drohnen ein, die aus billig eingekauften Teilen zusammengesetzt sind.

Handelt es sich dabei nicht um militärische Ausrüstung?

Es handelt sich um zivile Ausrüstung. Die Ukrainer stellen Drohnen wie die UJ-22 her, bekannt als Bobber, aus leicht erhältlichen Bauteilen aus Supermärkten oder von lokalen Märkten. Die Taliban waren die ersten, die diese Drohnen gegen die amerikanischen Koalitionstruppen eingesetzt haben: Jeder Kommandeur einer kleinen Einheit hatte ein billiges chinesisches Motorrad und eine chinesische Drohne mit einer Kamera in seinem Rucksack.

Die Flugreichweite der Drohne betrug in den Bergen nicht weniger als zweieinhalb Kilometer. Das Gerät konnte also über einen Pass fliegen und Aufklärungsarbeit leisten. In gewisser Weise waren sie besser ausgerüstet als die US-Armee zu dieser Zeit.

Eine effiziente Drohne ist also nur etwas teurer als das neueste iPhone?

Ja. Die amerikanische Armee gibt die Kosten für die Shaheed-Drohne mit 30’000 bis 40’000 Dollar an. Ich glaube, dass dieser Preis stark übertrieben ist. In Wirklichkeit ist sie viel billiger. Als die Amerikaner sie zerlegten, fanden sie im Inneren einen Texas Instrument TMS320-Steuerchip.

Geöffnete Drohne mit freigelegter Elektronik
Die elektronische Steuerung einer russischen Aufklärungsdrohne des Typs Orlan-10. Das Gerät wurde von einer ukrainischen Einheit nahe der Front sichergestellt. ​​​​​​​Serhiy Prytula Charity Foundation

Sie waren schockiert, und diese Tatsache sorgte in den westlichen Medien für Aufregung, wobei Forderungen laut wurden, die Ausfuhr in den Iran, nach China und vor allem nach Russland zu verbieten. Das Problem ist, dass dieser Chip hauptsächlich 1983 hergestellt wurde und die letzte Änderung 1992 vorgenommen wurde. Seitdem wurden weltweit mehr als 20 Millionen dieser Prozessoren hergestellt.

Dreissig Jahre später wird dieser Chip in Spielzeugen, Videospielkonsolen, in Industrieaufzügen eingesetzt – die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Fünf russische Fabriken stellen diese Chips jetzt in Russland her. In China kann jede Strassen-Werkstatt solche produzieren.

Ist es möglich, die Produktion von Drohnen in Russland zu kontrollieren?

Ein Verbot der Ausfuhr von Produkten von Texas Instruments ist sinnlos. Dieser Chip, der heute praktisch wertlos ist, steuert alle Bordsysteme während des Fluges der Shaheed-Drohne. Er plant die Flugroute, bewertet die Annäherung an das Ziel, hält die Kommunikation aufrecht, steuert die Satellitennavigation und die Routenkarte. Das Teil wird in Spielzeugen, Videospielkonsolen und Industrieaufzügen eingesetzt – die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Der Versuch, ihre Bewegung rund um den Globus zu kontrollieren, ist unmöglich.

Das ukrainische Militär sagt, die Lancet-Drohne sei eines ihrer Hauptprobleme auf dem Schlachtfeld. Es handelt sich um Drohnen aus russischer Produktion, die jedoch mit Komponenten von Schweizer Unternehmen wie STMicroelectronics und u-blox ausgestattet sind. Was kann man tun, um zu verhindern, dass Schweizer Komponenten in russischen Drohnen landen?

Ich glaube, dass all diese Diskussionen auf ukrainischer Seite darüber, was zu tun ist, aus einem Gefühl der Hilflosigkeit heraus entstehen. Es gibt nicht viel, was man tun kann. Die in diesen Drohnen verwendete Technologie entzieht sich der militärischen Kontrolle.

Der in Lancet verwendete Chip ist auf dem Markt leicht erhältlich; er kann für 250 Dollar auf der [chinesischen] E-Commerce-Website Alibaba bestellt werden. Und er ist nicht als Militärprodukt eingestuft.

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Warum betrachtet die ukrainische Armee die Lancet als eine ihrer grössten Bedrohungen?

Was unterscheidet die Lancet von den Geräten, die mit dem russischen Erzeugnis auf dem Weltmarkt konkurrieren, wie z. B. der amerikanischen Switchblade 600? Von den taktischen und technischen Merkmalen her ist sie im Wesentlichen gleich, die Switchblade hat sogar einen fortschrittlicheren Sprengkopf als die Lancet.

Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Lancet, wie ihr Hersteller offen angibt, nicht auf eine Satellitensteuerung angewiesen ist, die in Kriegszeiten leicht gestört werden kann. Drohnen können mit einer Technik namens «Spoofing» in die Irre geführt und daran gehindert werden, ihre Ziele zu erreichen.

Die russische Armee hat die Dinge gleichzeitig vereinfacht und verkompliziert. Auf dem Gerät sind Karten vorinstalliert. Wenn die Lancet das Ziel anfliegt, gleicht ihre Kamera ständig verschiedene Referenzpunkte auf dem Boden mit der Karte ab. Sie navigiert auf der Grundlage des Geländes. Vereinfacht gesagt ist es so, wie wenn man mit einem Flugzeug fliegt. Man könnte alle Satelliten zerstören, und für die Lancet-Drohne würde es keinen Unterschied machen.

Ist die Lancet deswegen so effektiv?

Den Herstellern von Zala Aero respektive ihren Experten und Ingenieurinnen muss deshalb Anerkennung gezollt werden: Sie haben einen unkonventionellen Weg gefunden, um diesen Effekt zu erzielen. Laut Satellitenbildern und Videodatenbanken von bestätigten Lancet-Angriffen wurden bis heute etwa 700 solche Angriffe geflogen. Etwa ein Drittel führte zu einer vollständigen Zerstörung des Ziels und etwa die Hälfte zu einer teilweisen Beschädigung. Das bedeutet, dass eine Wirksamkeitsrate von 80% als normal, ja sogar als gut angesehen wird.

Aus denselben Datenbanken geht hervor, dass die Wirksamkeit der Switchblade 600 fast gleich Null ist. Entweder werden sie von Russlands elektronischer Kriegsführung gestört oder sie haben strukturelle Mängel. Das Entscheidende ist, dass sie nicht den Schaden anrichtet, um die russische Armee wie erhofft zu schwächen.

Welche weiteren Unterschiede gibt es zwischen der Lancet und der amerikanischen Konkurrentin?

Die Lancet wird ständig weiterentwickelt. Sie ist nicht mehr die gleiche Waffe wie vor einem Jahr. Die Ingenieure fügen ständig neue Funktionen und Verbesserungen hinzu. Die Lancet ist eine kleine Drohne, die in relativ grosser Höhe fliegt. Sie ist kompakt, unauffällig und wendig; kaum jemand kann sie abschiessen.

Die Lancet operiert im Verbund mit einer Aufklärungsdrohne, die das Ziel identifiziert. Die Lancet wird dann eingesetzt, um das identifizierte Ziel zu zerstören. Diese Kombination aus Aufklärer und Angriff ist ein grundlegendes Prinzip dieser Kriegsführung.

Die russische Armee hat jetzt einen verbesserten Lancet eingesetzt, der von einer tragbaren Drohne aus abgefeuert wird. Die Drohnen kommunizieren in der Luft über Funk miteinander und bilden einen Schwarm fliegender Drohnen. Sie tauschen Informationen darüber aus, was sie sehen und welche Ziele die einzelnen Drohnen zerstören werden. Ein Schwarm hebt beispielsweise ab und entscheidet während des Fluges, welche Drohne welchen Wagen zerstören soll.

Der Lancet gibt ein Beispiel dafür, wie die künftige amerikanische Kriegsführung aussehen wird – denn die USA werden sehr schnell aufholen.

Können Lancet-Drohnen auch ohne Schweizer Komponenten funktionieren?

Es wird für eine Firma sehr schwierig sein, aber nicht unmöglich, den Weg ihrer Chips zu verfolgen und deren Weiterverkauf zu sanktionieren. Sollte dies geschehen, werden die Chips im Rahmen des Konzepts der «offenen Architektur» einfach ausgetauscht.

Das bedeutet, dass die einzelnen Komponenten des Geräts bestimmte Eigenschaften besitzen. Alle diese Komponenten sind mit einer speziellen Software miteinander verbunden. In diese Software lädt ein Ingenieur die Information hoch, dass er einen Chip durch einen anderen ersetzt hat. Die Software sieht darin kein Problem und funktioniert weiter.

Das ist so, als würde man versuchen, eine Mercedes-Antriebswelle in einen Volkswagen einzubauen; das wird nicht funktionieren. Aber innerhalb einer offenen Architektur ein Bauteil durch ein anderes zu ersetzen, ist kein Problem.

Wenn Russland zum Beispiel keinen Zugang zum Chip von ST Microelectronic hat, wird es ihn einfach durch einen anderen Schweizer Chip ersetzen. Für die Herstellung der Lancet-Drohnen sind keine Präzisionsmaschinen erforderlich, wie sie in der Metallverarbeitung etwa für den Schiffbau und die Luftfahrt beschafft werden. Ich weiss allerdings nicht, in welchen Mengen sie die Geräte produzieren können, das ist ein echtes Militärgeheimnis.

Die Software, welche die Lancet-Herstellerin Zala verwendet, spielt eine ebenso grosse Rolle wie die Bauteile selbst. Die Software ist einzigartig. Und es gibt keinen einzigen nachgewiesenen Fall, in dem jemand eine intakte Lancet erbeutet hat, dass er die Software knacken und verstehen konnte, wie sie funktioniert. Denn sie ist so konzipiert, dass die Software sofort unbrauchbar wird.

Editiert von Virginie Mangin. Übertragen aus dem Englischen: Renat Kuenzi

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