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Findet Russland je wieder zur Demokratie?

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Die Einschüchterung der russischen Bevölkerung ist erfolgreich, weil es keine politischen Alternativen zum System Putin gibt Keystone / Ivan Sekretarev

Der Krieg gegen die Ukraine hat für das Land eine neue Phase eingeleitet: Der Weg, den Kiew einschlagen wird, geht Richtung Europa, Richtung Westen, Richtung Demokratie. Aber was wird mit Russland geschehen? Hat es noch eine Chance auf eine demokratische Entwicklung? Oder wird es sich weiter in eine immer rigidere Diktatur verwandeln?

Die Präsidentschaft von Dmitri Medwedew (Mai 2008 – Mai 2012) wurde von vielen, auch in der Schweiz, zum Teil naiv als Beginn einer neuen Phase der kontrollierten Demokratisierung des Landes gesehen. Der Leitspruch Medwedews «Freiheit ist besser als Unfreiheit» wurde als das Entwicklungsprogramm des Landes für das nächste Jahrzehnt ernst genommen. Spätestens mit den Protesten auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 gegen mutmassliche Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen wurde jedoch klar, dass diese Hoffnungen sich nicht erfüllen sollten.

Es folgte eine Serie von Autokratisierungs-Schritten: Die auf Präsident Putins Amtszeitverlängerung ausgerichtete Verfassungsänderung im Sommer 2020, die versuchte Ermordung von Alexej Nawalny, die konsequente Zerstörung der Reste der lokalen Selbstverwaltung, eine totale Gleichschaltung der Medien, welche in der Liquidierung des Fernsehsenders «Rain TV» und des Radiosenders «Echo Moskwy» gipfelte, die Repressionen selbst gegen sogenannte Systemliberalen in der Regierung und schliesslich die Aggression gegen die Ukraine. All dies wirkt im Nachhinein betrachtet nicht wie eine Reihe zufälliger Ereignisse, eher wie eine bewusste Vorbereitung von Putins Regime auf den Krieg, den dieses nun führt.

Gesellschaft im Belagerungszustand

«Es ist dem Kreml gelungen, die russische Gesellschaft in einen geistigen Belagerungszustand zu versetzen», sagt der Schweizer Slawist Ulrich Schmid. «Drei von vier Russen glauben, dass die NATO eine feindliche Organisation ist», fährt er fort. «Auf breite Zustimmung stösst auch die russische Herausforderung der amerikanischen Hegemonie. Die Einschüchterung der russischen Bevölkerung ist erfolgreich, weil es keine politischen Alternativen zum System Putin gibt. Die einzigen beiden Politiker, die die Menschen mobilisieren könnten, sind entweder tot, siehe Nemzow, oder in Haft, wie Navalny.»

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Eine grosse Rolle spielt in Russland laut ihm der imperiale Gedanke. «Leider hat die imperiale Idee in Russland immer die Rolle eines Trumpfs gespielt, der alle anderen Karten sticht», sagt Schmid. So zögerten auch heute manche liberale Oppositionelle, wenn es darum geht, sich von den für das Land und die Welt so destruktiven Grossmachtsträume zu verabschieden. Schmid sieht einzig in einer Stärkung des russischen Föderalismus eine allfällige Möglichkeit, diese imperiale Begeisterung etwas abzuschwächen.

«Beeindruckender Pluralismus»

Im Nachbarland Ukraine, das von Putins Russland am 24. Februar völkerrechtswidrig angegriffen wurde, verlief die Entwicklung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion positiver. «Ein Grund dafür ist, dass es dort zur Jahrtausendwende keinen starken Mann aus dem Geheimdienst gab, der die Schwächen des politischen Systems für die eigene Machtbasis ausnutzen konnte», sagt der Historiker und Osteuropa-Professor Benjamin Schenk, der an der Universität Basel doziert. «Daher wurde in der Ukraine auch nie die Medienmacht konkurrierender Oligarchen zerschlagen, die im ukrainischen Fernsehen bis in jüngster Vergangenheit für einen beeindruckenden Pluralismus unterschiedlicher Meinungen sorgte.»

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Auch die ukrainische Zivilgesellschaft konnte sich – im Unterschied zu Russland unter Putin – in den letzten 20 Jahren frei entfalten. Positiv ausgewirkt hat sich in den letzten Jahren in der Ukraine auch der intensive Kontakt mit Menschen aus Mittel- und Westeuropa, unter anderem dank dem seit 2017 visafreien Zugang zum Schengen-Raum. Zudem hegten viele Ukrainerinnen und Ukrainer die Hoffnung, am Friedensprojekt «Europäische Union» in naher Zukunft in der einen oder anderen Form mitzuwirken.

Dem Vakuum überlassen

Benjamin Schenk weist mit Blick auf das heutige Russland darauf hin, dass die Menschen in den westlichen Besatzungszonen von Nachkriegsdeutschland von den Alliierten regelrecht zur Demokratie erzogen wurden – nicht aber in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion in Russland. Mit dem Marshall-Plan, dem Wiederaufbau und der Gründung einer europäischen Wirtschaftsunion seien in Deutschland die Grundlagen für das Wirtschaftswunder in der frühen Bundesrepublik geschaffen worden. In Russland aber habe es nach 1991 eben solche Programme nicht gegeben. Laut Schenk war auch dies ein Grund, warum die Demokratie in Russland nicht vergleichbar Fuss fassen konnte.

Ulrich Schmid stimmt dieser Sicht zu – und sieht in der Zukunft auch entsprechende Möglichkeiten. «Die Deutschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg unter Zwang an das Projekt des Westens mit Menschenrechten, Demokratie und Toleranz angeschlossen», sagt er. «Dieses Vorgehen war nur möglich, weil das Land kapitulierte und von den westlichen Mächten besetzt wurde. Zweifellos muss auch Russland Verantwortung für seine Kriegsverbrechen übernehmen. Eine solche Aufarbeitung der Vergangenheit wird aber erst nach dem Ende der Ära Putin möglich sein.»

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So stehen die beiden ungleichen Nachbarn Russland und Ukraine nun mit Blick auf eine irgendwann anstehende Nachkriegszeit vor sehr unterschiedlichen Ausgangslagen: Während in der Ukraine der Abwehrkampf und die internationale Solidarität die Zustimmung zu den Werten einer freien und demokratischen Gesellschaft gestärkt haben, haben die meisten Russinnen und Russen, welche sich vor dem Krieg für solche Entwicklungen erwärmen konnten, das Land verlassen.

Was braucht Russland also in Zukunft für einen demokratischen Wandel? Ulrich Schmid nennt einen ganzen Katalog: «Eine freie Presse, die Missbräuche anprangert, eine unabhängige Justiz, die Rechtssicherheit herstellt. Und es braucht eine wachsame Zivilgesellschaft, die sich nicht von Propaganda einschläfern lässt.»

Versäumnisse des Westens

Benjamin Schenk prangert derweil die Versäumnisse des Westens an. «Man hätte im Westen die Demokratisierung des Landes noch viel stärker unterstützen können und müssen, sei es mit umfassenden Wirtschaftshilfen, sei es mit Austauschprogrammen für Schüler und Studierende, mit einem Netz von Städtepartnerschaften, mit der Abschaffung der Visumspflicht für Reisende.»  Auch hätte der Westen die neue Wirtschaftselite Russlands «nicht aus Eigeninteresse tatkräftig bei der Plünderung des Landes unterstützen dürfen», sagt Schenk.

«Welche Massnahmen in Russland vonnöten sind, wissen russische Expertinnen und Experten aus der Zivilgesellschaft besser als ich», sagt Schenk. «Sie brauchen von mir keinen Rat.»

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