«In Sachen Schleier ist die Schweiz scheinheilig»
Das Kopftuch sorgt im Westen für Spannungen gegenüber dem Islam. Eine Ausstellung in Freiburg erinnert daran, dass die Bedeutungen mannigfaltig und nicht nur der muslimischen Religion oder der Frau vorbehalten sind. Heute ist es ein Kleidungsstück, mit dem die Identität in einer globalisierten Welt ausgedrückt wird, sagt François Gauthier, Professor für Religionssoziologie an der Universität Freiburg.
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Der Schleier in all seinen Formen
Religiös oder laizistisch, christlich oder muslimisch, getragen von einer Frau oder einem Mann, traditionelles Symbol oder modisches Accessoire. Die Ausstellung «Schleier und Entschleierung» bringt die lange Geschichte des Schleiers (Kopftuch) und dessen Anwendungen ans Licht.
In einer westlichen Gesellschaft, welche sich für die «Entschleierung» entschieden hat, ist das Kopftuch zu einem umstrittenen Thema geworden, zu einer Quelle des Unverständnisses. Im Internet hingegen kursieren Blogs, Foren und Videos mit Ratschlägen, wie die Schleier zu tragen sind; und Modedesigner schöpfen ständig neue Trends. Laut dem Religionssoziologen François Gauthier ist diese neue Sichtbarmachung des Schleiers mit der Globalisierung verbunden.
swissinfo.ch: Während im 20. Jahrhundert eine Tendenz zur «Entschleierung» einsetzte, kann man in einigen Ländern eine Rückkehr zum Tragen des Schleiers beobachten. Sehen Sie das auch so?
François Gauthier: Es ist keine Rückkehr, sondern eher eine neue Darstellung des Religiösen. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre verschleiern sich die Frauen in den muslimischen Ländern. Der Schleier ist nicht mit der Religion verknüpft, sondern mit der Tradition. Um eine moderne Nation zu werden, muss man sich davon emanzipieren. In den 1980er-Jahren sorgt die Globalisierung dafür, dass das Religiöse sichtbarer wird. Man konsumiert nicht Produkte, sondern Identitätssymbole, um die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften zu zeigen, die nicht mehr national, sondern global sind. Diese Symbole muss man im öffentlichen Raum zeigen, um anerkannt zu werden. Aus diesem Grund ist der Schleier wichtig geworden, genauso wie Halãl-Produkte. Muslimin zu sein, wird gelebt und sichtbar gemacht. Die Religion, nicht nur der Islam, wird nicht auf die Privatsphäre beschränkt, sie wird beworben.
swissinfo.ch: Die Religion wird also zu einem Konsumprodukt?
F.G.: In gewisser Weise. Sofern man darunter versteht, dass die Konsumgesellschaft weniger Waren als vielmehr Symbole, Identitäten und Sinn in Verkehr bringt. So gesehen, ist sie religiös. Wir konsumieren nicht Produkte, sondern Identitätssymbole. Ein Beispiel: Die Jungen haben eine Mode angenommen, ihre Jeans oberhalb der Fesseln hochzukrempeln. Sie wollen damit ihre Turnschuhe zeigen, weil diese ihre Persönlichkeit ausdrücken. Das Gleiche gilt für religiöse Symbole, die wie Hüte oder andere Bekleidungsstücke identitätsstiftend geworden sind. Vorher war das Tragen eines Schleiers gemeinschaftsbezogen, Synonym der Tradition oder der Zugehörigkeit zu einer politischen Bewegung. Heute ist es eine persönliche Identitätswahl.
François Gauthier ist seit 2013 Professor für Religionssoziologie an der Universität Freiburg. Zuvor hat der Kanadier an der Abteilung für Religionswissenschaften der Universität Québec in Montreal gearbeitet.
swissinfo.ch: Sie sprechen von persönlicher Wahl. Aber gewisse Länder zwingen Frauen dazu, den Schleier zu tragen…
F.G.: Das Tragen des Schleiers wird heute in allen westlichen und nicht-westlichen Ländern praktiziert. Man darf aber nicht vergessen, dass sich die Politik diesen neuen Aufschwung des konsumorientierten Schleiertragens zu Nutze macht. Die Behörden zwingen den Frauen den Schleier auf, weil er wieder Mode geworden ist, sonst würden sie mit ihrer Forderung scheitern. In den Augen zahlreicher Feministinnen legitimieren westliche Frauen, die einen Niqab tragen, die Praktiken jener Länder, welche die Frauen unterdrücken. Das Argument ist stichhaltig. Man kann Überlegungen zur Religion nicht mehr nur innerhalb der Staatsgrenzen anstellen. Der Schleier hat auch im globalen Raum eine Bedeutung. Diese Denkweisen zeigen, dass der Entscheid, einen Schleier zu tragen, nicht nur individuell ist, sondern auch die Pflicht legitimieren kann, die in Ländern wie Iran oder den Vereinigten Arabischen Emiraten besteht.
swissinfo.ch: Das Tragen eines Schleiers sorgt in westlichen Gesellschaften für Unbehagen.
F.G.: Das Problem liegt darin, dass wir Religion weiterhin als das betrachten, was sie früher war. Der Denkansatz orientiert sich am protestantischen Modell. Er beschränkt sich aufs Private. Die Politik und die Medien sollten begreifen, dass wir die Welt verändert haben und die Religion weiterhin sichtbar sein wird. Die Krise resultiert aus dem Unverständnis, aus der Idee, dass eine Rückkehr des Religiösen stattfinde. Dabei handelt es sich um einen Wandel, der alle Religionen betrifft. Der Islam verursacht Probleme aufgrund seiner Mehrheitsposition unter Migranten, seiner monotheistischen Prägung, die das Christentum konkurrenziert und die durch den Schleier sichtbar wird. Meines Erachtens muss man Leitplanken setzen, damit die Kinder sich nicht weigern können, ihrer Lehrerin die Hand zu geben. Auch spezielle Öffnungszeiten für Frauen in öffentlichen Bädern und Kopftücher in den Schulen sollte man nicht tolerieren. Akzeptieren muss man hingegen wahrscheinlich den Burkini. Aber es gibt keine generellen Lösungen. Sie werden in England, Frankreich oder der Schweiz unterschiedlich sein.
swissinfo.ch: In der Schweiz hat der Kanton Tessin ein Verhüllungsverbot eingeführt. Auf nationaler Ebene ist eine Initiative für ein «Burka-Verbot» am Laufen. Was halten Sie von dieser Gesetzgebung?
F.G.: In der Schweiz gibt es in Bezug auf den Schleier eine konservative Haltung. Gleichzeitig macht Schweiz Tourismus Werbung in muslimischen Ländern. Frauen in der Burka werden nicht nur geduldet, sondern man rollt ihnen den roten Teppich aus. Es wird alles unternommen, damit sie sich wohl fühlen. An gewissen Orten werden in der Nähe der Kassen Trinkhalme bereitgestellt, um ihnen zu ermöglichen, in der Burka zu trinken.
Auf der anderen Seite benutzt die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) auf ihren Plakaten Bilder von Frauen in einer Burka, um Angst zu verbreiten, dies sogar, um damit die dritte Ausländergeneration zu repräsentieren. Das hat keinen Sinn. Es gibt eine gewisse Schizophrenie. Wenn es ums Geldverdienen geht, gibt es keine Probleme, aber wenn es um Personen geht, die im Land leben, gibt es Probleme. Die Schweiz muss sich ihrer Scheinheiligkeit bei diesen Fragen bewusst werden.
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