Schüsse auf Zivilisten
Linke demonstrieren gegen die Versammlung einer rechtsgerichteten Partei, die Lage eskaliert, Gewalt bricht aus – nicht in Bern 2007, sondern in Genf 1932.
Die Ereignisse, die sich vor genau 75 Jahren in Genf zutrugen, unterschieden sich aber sehr von den Unruhen in Bern im Vorfeld der Parlamentswahlen im Oktober 2007.
Bei dem am 9. November 1932 von der Schweizer Armee in Genf angerichteten Blutbad wurden 13 Menschen getötet und 65 verletzt. Der Staat griff hart durch gegen die «Verletzung der öffentlichen Ordnung».
Dies war das letzte Mal, dass die Armee gegen zivile Demonstranten eingesetzt wurde. Und die Tragödie löste eine bis heute anhaltende Debatte aus, ob Militär zur Unterstützung der Polizei eingesetzt werden soll.
Prekäre wirtschaftliche Lage
Der Übergriff ereignete sich in einer politisch, sozial und wirtschaftlich sehr angespannten Lage. In Genf herrschte zu jener Zeit eine hohe Arbeitslosigkeit und die politische Rechte hatte sich mit der Gründung der frontistisch-faschistischen «Union Nationale» radikalisiert.
Die Sozialdemokraten organisierten eine Demonstration gegen eine Versammlung der «Union Nationale», an der ein Gerichtsverfahren gegen die Führer der Linken gefordert wurde, weil sie angeblich einen Bürgerkrieg anzetteln wollten.
Schiessbefehl
Die Genfer Behörden bewilligten beide Versammlungen, fragten aber bei der Armee um Verstärkung der Genfer Polizeikräfte an.
Um 21 Uhr wurden unerfahrene Rekruten beim Palais des Expositions, in dem sich die Rechtsradikalen versammelt hatten, von den linken Gegendemonstranten in die Enge getrieben.
Ein Offizier gab darauf den Schiessbefehl. Dieser wurden von einigen Soldaten befolgt, von anderen nicht, einige feuerten in die Menge, leerten ihre Magazine, andere schossen in die Luft.
Es dauerte nur Sekunden. 13 Personen wurden getötet, ein grosser Teil von ihnen waren unbeteiligte Passanten. 65 Personen wurden verletzt.
Die Demonstration löste sich auf. «Zurück blieben nur die Körper auf dem Boden. Dies war ein schreckliches Bild im Licht der Strassenlampen», erinnert sich ein Soldat der damals dabei war.
Der Schweizer Fernsehjournalist Claude Torracinta drehte 1977 einen Film über diese Ereignisse. Er führte dafür auch Gespräche mit Soldaten, die beteiligt waren.
«Sie hatten Mühe, die Verantwortung dafür zu tragen, auch 45 Jahre nach dem Ereignis. Jeder hatte Mühe, zuzugeben dass er gefeuert hatte», sagte er.
Von allen Armeeangehörigen, die Torracinta 1977 befragte, sagte nur der Offizier, der den Schiessbefehl gegeben hatte, es sei das Richtige gewesen.
«Die Demonstration vom 9. November 1932 muss im Zusammenhang gesehen werden mit der Angst der Menschen vor einem revolutionären Umbruch», sagte Prof. Dr. François Walter von der Universität gegenüber swissinfo.
Angst vor der Revolution
In den 1930er-Jahren herrschte eine weltweite Wirtschaftskrise, die auch die Schweiz nicht unberührt liess. Es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit und es gab kein soziales Sicherheitsnetz wie heute.
«In den 1930er Jahren wurde die Legitimität der demokratischen Regierung in Frage gestellt. Viele fragten sich, ob das kriselnde Staatssystem nicht andere Experimente rechtfertigen würde, vielleicht sogar den Sturz der Regierung durch eine Revolution», sagte Walter.
Die konservativen Befürchtungen konzentrierten sich 1932 auf die russische Revolution von 1917. Hitler hatte in Deutschland die Macht noch nicht ergriffen und für den Durchschnittsschweizer war die Gefahr des Faschismus noch nicht so ersichtlich.
Linker Sündenbock
So wurde den linken Demonstranten weitgehend die Schuld an der Tragödie gegeben. Der Anführer Léon Nicole und andere Sozialdemokraten wurden verhaftet und für die Vorfälle verantwortlich gemacht. Nicole musste für sechs Monate ins Gefängnis.
Ein Jahr darauf war die Tragödie immer noch stark in der Öffentlichkeit präsent. Die Sozialdemokraten legten bei den Grossratswahlen zu und Léon Nicole zog mit drei anderen Sozialdemokraten in die Regierung ein.
Ein Mahnmal mit der Inschrift «Plus jamais ça» (Nie wieder) erinnert die Genfer an dieses dunkle Kapitel Geschichte. «Noch nie gab es so viele Diskussionen über die Ereignisse von 1932 wie in diesem Jahr» kommentierte Walter. «Je weiter wir uns von 1932 entfernen, desto wichtiger werden sie. Sie sind jetzt ein Teil des Schweizerischen Bewusstseins.»
swissinfo, Julia Slater
(Übertragung und Adaptierung aus dem Englischen: Etienne Strebel)
In den 1930er Jahre herrschte eine Weltwirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit war auch in der Schweiz hoch.
Extreme Parteien – rechte wie linke – fanden wachsenden Zulauf.
Die extreme Linke bezieht ihre Inspirationen aus Russland, während die Rechtsextremen das Regime von Mussolini in Italien bewundern.
Ein Grossteil der Presse sprach die Schuld für die Schüsse in Genf den linken Demonstranten zu, diese hätten die Soldaten provoziert.
Der Führer der Sozialdemokraten, Léon Nicole, wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt. Bei den folgenden Wahlen gewannen die Sozialdemokraten aber eine Mehrheit in der Genfer Regierung.
1935 rückte die sozialdemokratische Partei von ihrem revolutionären Programm ab. Léon Nicole wurde 1939 ausgeschlossen.
1982 wurde das offizielle Denkmal zur Erinnerung an die Opfer des Anschlags in Genf eingeweiht.
Die Armee wurde auch beim Generalstreik von 1918 eingesetzt. Damals wurden drei Arbeiter getötet.
Bei der Schiesserei vom 9. November 1932 wurde die Armee das letzte Mal gegen die Zivilbevölkerung der Schweiz eingesetzt.
Derzeit wird die Armee eingesetzt für die Bewachung ausländischer Botschaften, als Hilfe für die Grenzschutztruppen sowie für die Gewährleistung der Sicherheit in der Zivilluftfahrt.
An der Fussballeuropameisterschaft Euro08 werden bis zu 15’000 Soldaten zur Unterstützung der zivilen Kräfte eingesetzt, hat das Parlament beschlossen. Gegen Hooligans kämen sie allerdings nicht zum Einsatz.
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