Stimm- und Wahlrechtsalt 16 Jahre für die Schweiz!
Die Überalterung der Gesellschaft betrifft auch die direkte Demokratie Schweiz: Bei den Parlamentswahlen vom 20. Oktober wird die Hälfte der Stimmenden über 57 Jahre alt sein. 2027 dürfte die Hälfte dann schon 59 Jahre sein. Als Gegenmittel schlägt der Politikwissenschaftler Claude Longchamp* die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre vor.
Der US-Philosoph Tom Nichols fordert Stimmrechtsalter 50. Jüngere seien vermehrt links, hätten keine Immobilien und wüssten nichts von Aussenpolitik. Besser als Wählen sei es, erst einmal Lebenserfahrungen zu sammeln. Die ganz Alten wiederum könnten nur noch zwei-, dreimal wählen, dann sei Schluss. Deshalb sei es richtig, sie zu privilegieren.
Was ist das richtige Stimmrechtsalter?
Greta Thunbergs Mutter sieht das in ihrem Buch ganz anders. Ihre beiden Töchter hätten Aussichten, 100 Jahre alt zu werden. Sie müssten sich damit auseinandersetzen, zu Beginn des 22. Jahrhunderts (!) noch zu leben. Niemand könne garantieren, was dann sei, umso mehr müsse man sich jetzt für den Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen einsetzen.
Die Debatte über das richtige Wahlrechtsalter – in der Schweiz auch über das richtige Stimmrechtsalter – ist alt. Beim allgemeinen Männerwahlrecht war die Schweiz europäischer Spitzenreiter, beim Frauenwahlrecht begnügte man sich fast mit der roten Laterne.
Im 19. Jahrhundert dominierte auch in der Demokratie die Vorstellung, eine kleine vermögende Elite müsse entscheiden. Das Umdenken begann erst im 20. Jahrhundert. Demokratie setzt seither ein universelles Wahlrecht voraus. Es wird überall unabhängig vom Geschlecht gewährt. Bindungen an die Heimatnationalität werden gelockert, und Alterslimiten nach unten gesenkt.
Wer eine ganz fortschrittliche Lösung will, verlangt Wahlrechtsalter 0, also ab Geburt. Doch das setzt Stellvertretung voraus und ritzt am eminent wichtigen Grundsatz, dass ein Mensch nur eine Stimme haben darf.
Weltweit dreht sich deshalb die politische Diskussion um das Wahlrechtsalter 14 oder 16, wo heute Wahlrechtsalter 18 gilt. Wie auch in der Schweiz.
Utopisch? In kantonalen Fragen können die Glarner und Glarnerinnen mit 16 politisch mitbestimmen. Der kleine Kanton ging hierzulande als Erster dazu über, und er ist nicht untergegangen.
Er hat auch andere mutige Entscheidungen getroffen, wie eine grosse, radikale Gemeindefusion. Hauptgrund immer wieder: Zukunftsfähige Strukturen etablieren! Ich denke, wir alle sollten Glarner werden – verantwortungsbewusste Bewohner des Bergtals.
Was die Sozialwissenschaft zum politischen Bewusstsein weiss
1991 stimmten die Schweizer Stimmbürgerinnen und -bürger für die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters von 20 auf 18. Damals habe ich mich für die Senkung stark gemacht. Studien zur politischen Mündigkeit Jugendlicher, die ich als junger Soziologe verfasst hatte, zeigten zweierlei: Wenn man sehr strenge Massstäbe an die kognitiven oder emotionalen Voraussetzungen des Wählens und Abstimmens anlegt, sind politische Rechte selbst für Zwanzigjährige problematisch. Versteht man dagegen Politik als gesellschaftliche Lernprozesse, verfliegen die Bedenken rasch.
Politisches Bewusstsein entwickelt sich mit der politischen Sozialisation. Bei den einen beginnt sie mit zwölf, bei anderen erst mit 25. Entscheidend ist die Familie. Wächst man in einem politischen Haushalt auf, besteht kein Problem. Das ist in einem unpolitischen Haushalt definitiv anders.
Man findet auch Hinweise, dass der Grad der Politisierung im Wohnquartier die Nutzung politischer Rechte beeinflusst. So ist die politische Partizipation in Stadtteilen mit vielen Ausländerinnen und Ausländern ohne Stimmrecht häufig geringer – auch bei Schweizerinnen und Schweizern!
Individuell gesehen ist die Schulbildung entscheidend. Je höher der Schulabschluss, desto ausgeprägter sind das politische Interesse und die politische Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen.
Häufig sind es grosse Ereignisse, die ganze politische Generationen formen: Kriege, Friedensbewegungen, der Ein- und Austritt aus der EU oder die Klimafrage.
Die Klimastreik-Bewegung zeigt heute, was das heisst. Nichts hat die Schweiz in den letzten zwölf Monaten so verändert wie die Bewegung der Schülerinnen und Schüler. Bis zu 50’000 oder 70’000 gingen diesen Frühling in der Schweiz auf die Strasse, um für eine neue Klimapolitik zu demonstrieren. Viele liessen dafür sogar die Schule aus. Andere nahmen auch ihre Eltern mit. Damit wollte man gerade auch im Wahljahr zeigen, dass es nicht so weiter gehen kann wie bisher.
Die Botschaft ist angekommen. Praktisch alle Parteien mussten sich zu diesem Thema äussern. Die einen taten es fast ungefragt, denn es gehört zu ihrer Weltanschauung. Weitere lernten der Not gehorchend hinzu. Nochmals andere behaupten bis heute: «Alles erfunden, um Wahlen zu gewinnen!»
Erwachsene werden immer jünger
Was hat das mit unserem Thema zu tun? Vor allem Mediensoziologen glauben an einen anhaltenden Trend. Neil Postman war vor vierzig Jahren überzeugt, dass die ausufernde Medialisierung der Gesellschaft Kindheit und Jugend verdrängen, dafür junge Erwachsene zwischen 12 und 25 Jahren schaffen werde. Genau das haben wir heute, denke ich.
Politisches Bewusstsein entstehe dank dem Konsum sozialer Medien bei jungen Erwachsenen heute früher, sagt der deutsche Soziologe Klaus Hurrelmann. Immer jüngere sind bereit, politisch zu handeln, wenn ein Thema sie betrifft.
Die Senkung des Wahlrechtsalters auf 16 Jahre ist keine Lösung für alle Probleme der heutigen Demokratien, aber auch kein undemokratischer Akt.
Österreich hat es vorgemacht: Unser Nachbar ist vor zehn Jahren zum Wahlrecht 16 übergegangen. In Österreich lässt sich auch am besten studieren, was die Folgen sind.
Eine kürzlich publizierte Evaluierung kommt zu folgenden Schlüssen: Kurzfristig liess die Wahlrechtssenkung die Wahlbeteiligung junger Menschen steigen. Der Effekt hat sich seither normalisiert.
Allerdings mit einer Folge: Menschen, die mit 16 wählen konnten, beteiligen sich auch später politisch stärker als solche, die das Wahlrecht erst mit 18 oder noch älter bekommen hatten. Hauptgrund: Wer sich in jungen Jahren ernst genommen fühlte, wird dadurch geprägt.
Das gilt auch umgekehrt: Wer dachte, in jungen Jahren nicht für voll genommen worden zu sein, vergisst das nicht so schnell und bleibt häufiger distanziert. Die Langzeitbeobachtung zeigt zudem, dass Menschen, die mit 16 das Wahlrechtsalter bekamen, etwas häufiger zu dezidiert linken, aber auch zu rechten Positionen neigen.
Das ist nachvollziehbar: Politische Gruppierungen, die auf Veränderungen aus sind, sind die Nutzniesserinnen solcher Neuerungen der Demokratie. Und es macht auch Sinn: Wer den Status Quo verteidigt, kann sich von Veränderungen nichts versprechen.
Rasante Alterung der Schweiz als Herausforderung
Für mich gibt es in der Schweiz ein weit entscheidenderes Argument. Die Stimmenden altern. Rasanter als an den meisten anderen Orten.
2023 werden die Über-50-Jährigen in der Mehrheit sein, repetieren die Befürworter einer Rentenaltererhöhung. Ihre Analysen kann man auch verwenden, um das Stimmrechtsalter zu senken.
Der oder die Medianstimmende in der Schweiz ist heute 57 Jahre alt. Das heisst, dass die eine Hälfte der Stimmenden unter 57 Jahre als ist, die andere Hälfte über 57 Jahre. 2023, bei den übernächsten Schweizer Wahlen, dürfte es bei 58 Jahren liegen, 2027 dann bei 59.
1991, als man das Stimmrechtsalter auf 18 senkte, war der Medianstimmende knapp über 50 Jahre alt. Das hat nichts mit der ungleichen Beteiligung nach Alter zu tun. Es ist eine Folge der rasant steigenden Alterung der Gesellschaft.
Die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters in der Schweiz ist eine denkbare Gegenmassnahme dazu. Es geht darum, dass die Alterspyramide der politischen Entscheidenden etwas weniger aus dem Lot gerät.
Stimmen und Wählen ist in der Schweiz bis zu einem Alter von 80 Jahren verbreitet. Wenn man mit 20 erstmals an die Urne darf, sind das 60 Jahrgänge. Wenn man das Eintrittsalter auf 18 oder 16 verringert, macht das nicht viel aus.
Ich lerne daraus dreierlei:
Erstens: Die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters ist individuell nicht folgenlos. Es teilt namentlich politisch immer früher sozialisierten Menschen in jungen Jahren mit, ob man sie ernst nimmt oder nicht.
Zweitens: Das Wahl- und Stimmrecht zu senken, bedeutet, zur Alterung der Gesellschaft ein Gegengewicht zu schaffen.
Und drittens: Die Folgen aufs Ganze sind recht gering. Die Polarisierungstendenz wird zwar etwas verstärkt, hat aber ganz andere Ursachen.
*Leicht gekürzter Redebeitrag von Claude Longchamp an Public Beta,Externer Link dem Demokratie Festival vom 13. September 2019 in Basel.
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