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Wirtschaft soll Schweizer Milizpolitik wieder auf Kurs bringen

Jugendliche, die in der Schweizerischen Volkskammer (Nationalrat) sitzen und miteinander im Gespräch sind
Der Dachverband Schweizer Jugendparlamente wurde dieses Jahr für sein Engagement im politischen Milizsystem mit dem Milizpreis der Swiss Re ausgezeichnet. © Keystone / Alessandro Della Valle

Die Globalisierung untergräbt einen der Grundpfeiler des schweizerischen Staatswesens: das politische Milizsystem. Die "internationalisierte" Schweizer Wirtschaft hat reagiert und arbeitet jetzt auf wissenschaftlicher Basis gemeinsam an Korrekturansätzen.

In Tat und Wahrheit ist das so genannte Schweizer Milizsystem heute nur noch in kantonalen und kommunalen Parlamenten sowie in den Exekutiven kleiner und mittlerer Gemeinden die Regel. Und in letzteren gibt es immer weniger Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, ein Mandat in der Exekutive oder in einer Kommission zu übernehmen.

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«Das Grundproblem ist die Kluft zwischen der Beliebtheit, die das Milizsystem in der Bürgerschaft geniesst, und der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich selber in der Milizpolitik zu engagieren. Letztere wollen keine Professionalisierung der Politik, aber gleichzeitig erwarten sie, dass jemand anderes diese nebenamtlich Aufgabe übernimmt.»

Das sagt Andreas Müller, der verantwortlich für das Programm des «Jahrs der Milizarbeit»Externer Link war. Dieses hatte der Schweizerische GemeindeverbandExterner Link 2019 ausgerufen. Mit dem Ziel, eine vertiefte Diskussion zu diesem Thema zu fördern.

Die Initiative fiel auf fruchtbaren Boden. Zahlreiche Debatten und Veranstaltungen im Jahr 2019 halfen, die Ursachen der Probleme mit dem Milizsystem zu ermitteln. Und es gelang auch, Lösungen zu finden.

Berufliche Unvereinbarkeit

Andreas Müller
Für Andreas Müller besteht kein Zweifel, dass Erfahrung in der Politik ein Plus im Lebenslauf ist. Andreas Müller

Unter den Hauptgründen für die wachsende Abneigung der Schweizerinnen und Schweizer, öffentliche Ämter zu übernehmen, werden immer wieder zwei genannt. Beide sind eng mit der schweizerischen Geschäftswelt verbunden.

Es sind die mangelnde Anerkennung der in politischen Institutionen geleisteten Arbeit im Lebenslauf und die Unvereinbarkeit dieser Arbeit mit einer beruflichen Tätigkeit aus Zeitmangel.

Studien und Vergleiche zeigen die Widersprüchlichkeit auf zwischen der Rhetorik der Wirtschaftsorganisationen und vieler Unternehmen, die ihre Unterstützung für das politische System der Miliz verkünden, und der Praxis, welche die Ausübung dieser Mandate behindert.

Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass die Verkürzung der Arbeitszeit, die einem politischen Mandat gewidmet wird, eine Karrierebremse ist. Denn bei Beförderungen neigt man in der Wirtschaft eher dazu, diejenigen zu bevorzugen, die zu 100% dem Unternehmen verpflichtet sind.

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Schweizer Besonderheit im Clinch mit Globalisierung

Dies ist zum Teil auf Entwicklungen sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik zurückzuführen. «Beide verlangen immer mehr in Bezug auf Wissen und Engagement», sagt Müller. Die Globalisierung sei ein Faktor, der die Wirtschaft tiefgreifend verändere und die Prinzipien verzerrt habe, die letztere mit Politik und Staatsbürgerschaft verbänden.

Wenn man die Entwicklung des Milizsystems betrachte, würde man sehen, dass dessen Niedergang parallel zum Aufstieg gesellschaftlicher Phänomene wie Individualismus, Mobilität und Globalisierung verlaufe. Dies habe zu einer grossen Zahl ausländischer Führungskräfte im obersten und mittleren Management in Schweizer Grossunternehmen geführt, sagt Andreas Müller.

Die Zeiten, in denen es üblich gewesen sei, dass sich Führungskräfte grosser, international tätiger Schweizer Unternehmen auch politischen Mandaten gewidmet und das Milizsystem gefördert hätten, seien vorbei. «Magdalena Martullo-Blocher, die sowohl Geschäftsführerin der Ems-Chemie Holding als auch Nationalrätin ist, stellt im Parlament heutzutage eine Ausnahme dar», so der Experte.

Gegensteuer mit wissenschaftlichem Projekt

Die Schweizer Wirtschaft hat jedoch auf die Kritik reagiert, die während des Jahrs der Milizarbeit geäussert wurde. Berufsverbände und eine Reihe grosser Unternehmen beteiligen sich am Projekt PoliworkExterner Link. Das gemeinsame Projekt der Fachhochschule GraubündenExterner Link und von Andreas Müller bezieht auch politische Institutionen und die Zivilgesellschaft mit ein.

Ziel dieses wissenschaftlichen Projekts ist es, Anreize und Unterstützungsmassnahmen zu entwickeln, um die Vereinbarkeit zwischen beruflicher Tätigkeit und politischem Milizauftrag zu verbessern.

Diese Massnahmen werden anschliessend in einem Online-Toolkit gesammelt und analysiert. Vorbild dafür ist ein Projekt namens Promo 35Externer Link zur Förderung junger Erwachsener in kommunalen Führungspositionen, welches das FHGR-Team bereits 2019 durchgeführt hat.

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Überzeugungskraft und moralische Verpflichtung

Laut Müller ist es zentral, «den oberen und mittleren Führungskräften verständlich zu machen, dass die Zeit, welche die Mitarbeitenden für milizpolitische Mandate aufwenden, kein Verlust für das Unternehmen ist, sondern eine Investition». Sie würden dabei Fähigkeiten erwerben, die sie in ihrer Arbeit einsetzen können.

Die meisten ausländischen Führungskräfte seien sich wahrscheinlich nicht bewusst, welche Vorteile sie für das Unternehmen erzielen können. Denn sie sind mit diesem System, einer schweizerischen Besonderheit, nicht vertraut. Die Poliwork-Forschenden suchen daher nach Möglichkeiten, diese Personen angemessen zu informieren. Eine englischsprachige Broschüre sei eine der Massnahmen, sagt Müller.

Die vollständigen Ergebnisse des Projekts werden für 2021 erwartet. Müller ist zuversichtlich, dass die von Poliwork vorgeschlagenen Massnahmen umgesetzt werden. «Es erscheint mir logisch, dass die Unternehmen, die sich finanziell an dem Projekt beteiligt haben, auch die Initiative zur Umsetzung der vorgeschlagenen Massnahmen ergreifen werden», sagt er.

Müller weist zudem darauf hin, dass die CSR [Akronym für Corporate Social Responsibility] mittlerweile gängige Praxis in der Unternehmensführung sei und es deshalb in diesem Bereich Spielraum gebe.

«Der Begriff ‹Corporate Citizenship› wird ebenfalls häufig verwendet. Das bedeutet, dass der Begriff ‹Bürger› bereits in der Unternehmensstrategie erwähnt wird. Deshalb muss es den Mitarbeitenden erlaubt sein, Bürgerin oder Bürger zu sein. Für das Unternehmen ist dies keine rechtliche, sondern eine moralische Verpflichtung», sagt er.

Der Wert des Schweizer Milizsystems wird von einem weltweit tätigen Schweizer Unternehmen anerkannt und gewürdigt: Swiss Re.

Seit 2001 vergibt der weltgrösste Rückversicherer den mit 40’000 Franken dotierten «Milizpreis» an Personen, «die neben ihren beruflichen Verpflichtungen ein aussergewöhnliches Engagement für eine Tätigkeit im Dienst der Gemeinschaft zeigen».

Der Preis 2020 ging an den Dachverband Schweizer JugendparlamenteExterner Link, der sein 25-jähriges Bestehen feiert.

Der preisgekrönte Verband verteilt das Preisgeld im Rahmen eines WettbewerbsExterner Link an die Mitglieder zur Realisierung konkreter Projekte.

Die Gewinnerinnen und Gewinner dieses Wettbewerbs werden am 23. Oktober in Nyon (Kanton Waadt) ausgezeichnet.

Zertifikat zur Bereicherung des Lebenslaufs

In der Zwischenzeit ergriff auch die Schweizer KaderorganisationExterner Link (SKO) Massnahmen an der Basis, um eine Lücke zu schliessen: die offizielle Anerkennung von Fähigkeiten, die bei der Ausübung von Milizmandaten erworben wurden.

In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Gemeindeverband fördert die SKO die «Zertifizierung der Führungskompetenzen von Gemeinderatsmitgliedern»Externer Link, die Managementfähigkeiten bescheinigt. Sie kann von Personen mit mindestens vier Jahren Erfahrung in einem kommunalen Umfeld erworben werden.

Die Zertifizierung ist ein Mehrwert, der es den Mitgliedern kommunaler Führungsgremien und Gemeindevorstehenden ermöglicht, ihr berufliches Profil zu festigen. Ziel ist es, das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an diesen Mandaten zu wecken. Das Attest trägt auch dazu bei, die Unternehmen für die Nützlichkeit dieses Wissens- und Erfahrungsschatzes zu sensibilisieren.

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