Schweizer Filmemacher Samir kämpft gegen das Vergessen
(Keystone-SDA) Der neue Dokumentarfilm des Zürcher Filmemachers Samir blickt auf ein verdrängtes Stück Schweizer Geschichte: die Migration aus den südlichen Nachbarländern in der Nachkriegszeit.
Die Formulierung ist drastisch: «Italiener nicht erwünscht!». Dieser Hinweis stand in vielen Wohnungsanzeigen, die in Schweizer Zeitungen der Nachkriegszeit zu finden sind. Kaum jemand erinnert sich heute noch daran. Das will der Zürcher Filmemacher Samir mit seinem neuen Werk «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer» ändern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der wirtschaftliche Boom. Um daran teilhaben zu können, brauchte die Schweiz Arbeitskräfte. Und diese kamen – vor allem aus Italien. Sie waren geduldet, aber nicht erwünscht, wie das Beispiel der Wohnungsinserate zeigt. Einerseits sorgten die Italienerinnen und Italiener in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren entscheidend für den Reichtum in der Schweiz, anderseits hausten sie abgeschieden in Saisonnier-Baracken. «Stille Apartheid» wird das im Film genannt.
«Ich bin ja Teil dieser Geschichte»
In dieser Zeit wanderte Samir, damals noch ein Kind, gemeinsam mit seiner Familie aus dem Irak ein. Bald traf er auf italienische Kinder. Über 60 Jahre ist das her und während der Covid-Pandemie fand Samir Zeit, um die Migrationsgeschichte der Schweiz zu recherchieren, wie er in einem Interview mit «Work», der Zeitung der Gewerkschaft Unia, sagte. «Dabei habe ich bemerkt: Ich bin ja ein Teil dieser Geschichte.»
Deshalb kam auch der Wunsch auf, selber in seinem Film zu erscheinen. Dafür griff Samir in die Trickkiste: Er ist nun als Avatar zu sehen. Die Idee des virtuellen Spiegelbildes mag eine verlockende sein, überzeugen tut sie hier aber nicht. Sein Alter Ego und die anderen Figuren wirken ungelenk, wie Fremdkörper, sie unterbrechen den Rhythmus des Films und sind schlicht unnötig.
Ausserhalb des Gesichtsfelds
Der 69-jährige Regisseur und Produzent bemängelt, dass bis heute viele Schweizerinnen und Schweizer aus der Mittelschicht gar keinen Kontakt zu Migrantinnen und Migranten hätten. Diese seien ausserhalb ihres Gesichtsfeldes, sagt Samir im Interview. «Politiker und Wirtschaftsführer haben keine Ahnung von deren Lebenswelten. Und dieses Nichtwissen, diese Deklassierung einer grossen Schicht dieses Landes, das erschüttert mich.»
Deshalb geht der Dokumentarfilm über die Nachkriegszeit hinaus und schlägt den Bogen bis in die Gegenwart: die Schwarzenbach-Initiative, die Arbeit der Gewerkschaften, die Ölkrise, die Massenentlassungen, das Aufkommen des Feminismus, die «neuen» Ausländer und vieles mehr.
«Die anderen sind wir alle»
Das Werk ist auf zwei Schauplätzen parallel tätig. Einerseits will Samir gegen das Vergessen und Verdrängen der Vergangenheit ankämpfen, anderseits zieht er Parallelen zu heute. Die Migrantinnen und Migranten würden die gleiche Diskriminierung erfahren wie damals die Menschen aus Italien. Trotzdem ist er nicht ohne Hoffnung, wie er im Interview sagte: «Mein Film zeigt auch, dass wir das ändern können. Diese anderen sind immer wir alle. Ich hoffe, dass ich dazu beitrage, zu verstehen, dass das kollektive Verständnis eine urmenschliche Sache ist, um Verbesserungen herbeizuführen.»
Der Film ist lang – über zwei Stunden -, dicht und dialoglastig. Das gereicht ihm nicht zum Nachteil. Die Gliederung überzeugt und die Balance zwischen Fakten und Emotionen stimmt. Zahlreiche Menschen kommen zu Wort, unzählige Filmausschnitte dokumentieren das Gesagte. So ist der Film sowohl konsequent anwaltschaftliche Geschichtsstunde als auch mehrbändiges Lexikon, das immer wieder zur Hand genommen werden kann.