Asbestopfer: EGMR urteilt gegen die Schweiz
Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten eines Asbestopfers zeigt die Grenzen des schweizerischen Rechtssystems auf und stellt die Verjährungsfrist in Frage.
Als Bub wohnte Marcel Jann elf Jahre lang in einem Haus direkt neben einer Asbestfabrik, die dem Schweizer Unternehmen Eternit gehörte. Die Fabrik war für Jann fast wie ein Spielplatz: Er kletterte auf den herumliegenden Asbestzementrohren herum und beobachtete, wie der Asbest am Bahnhof Niederurnen, auf halbem Weg zwischen Zürich und Liechtenstein, abgeladen wurde. Die Verwendung von Asbest wurde in der Schweiz erst 1989 verboten.
Im Jahr 2006 starb Jann im Alter von 53 Jahren an einem Pleuratumor, einer Form von Lungenkrebs, der angeblich auf die Asbestexposition zurückzuführen war, der er ausgesetzt war. Bevor er starb, reichte er eine Strafanzeige gegen das Unternehmen wegen schwerer Körperverletzung ein. Die Klage wurde von den Schweizer Gerichten abgewiesen.
Drei Jahre nach Janns Tod reichten seine Frau und sein Sohn eine Entschädigungsklage gegen Eternit, die Erben des früheren Eigentümers des Unternehmens und die Schweizerischen Bundesbahnen ein. Im Jahr 2019 entschied das Schweizerische Bundesgericht jedoch, dass die Verjährungsfrist von 10 Jahren abgelaufen war. Ein Jahr später wurde die Verjährungsfrist auf 20 Jahre angehoben, aber selbst dann waren zwischen der Asbestexposition von Jann und der Einreichung seiner Klage mehr als drei Jahrzehnte vergangen.
Der EGMR als letzter Ausweg
Da Janns Familie keine andere Wahl hatte, reichte sie 2020 eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Am 13. Februar wurde das UrteilExterner Link der EGMR-Kammer mit sieben Richter:innen – darunter einem aus der Schweiz – veröffentlicht, in dem eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren festgestellt wurde.
«Der Gerichtshof stellte fest, dass es keine wissenschaftlich anerkannte maximale Latenzzeit zwischen Asbestexposition und Pleuratumore gibt. Die Latenzzeiten variierten zwischen 15 und 45 Jahren (oder mehr) nach der Exposition», heisst es in der Pressemitteilung.
Dies bedeutet, dass die Verjährungsfrist nicht als Vorwand dienen kann, um Janns Familie das Recht auf Zugang zu einem Gericht zu verweigern. Ihr Anspruch auf Entschädigung muss angehört werden.
«In solchen Fällen kann die Person eine Revision des Urteils des Bundesgerichts beantragen und das Gericht muss auf der Grundlage des EGMR-Urteils einen neuen Entscheid fällen, wenn die Voraussetzungen von Artikel 122 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht erfüllt sind», erklärt Walter Kälin, Rechtsprofessor an der Universität Bern, gegenüber SWI swissinfo.ch per E-Mail.
Das Urteil des EGMR ist ein wichtiger Sieg für die Familie Jann, da der Europäische Gerichtshof nur sehr selten gegen Schweizer Gerichte entscheidet. Im Jahr 2022 befasste sich der EGMR mit 235 Beschwerden, welche die Schweiz betrafen. Davon wurden 227 nicht zugelassen. Russland, die Ukraine und die Türkei sind bei weitem die schlimmsten Missetäter, wenn es um Verstösse gegen die Europäische Menschenrechtskonvention geht.
Nicht vorbei, bis es vorbei ist
Wie bei den meisten Rechtswegen gibt es immer die Möglichkeit der Berufung. Die Schweizer Regierung hat noch drei Monate Zeit, um eine Verweisung an die Grosse Kammer des EGMR (die sich aus 17 Richter:innen zusammensetzt) zur erneuten Prüfung des Falls Jann zu beantragen. Solche Anträge sind Ausnahmefälle und werden von einem Gremium von Richter:innen geprüft, die entscheiden, ob die Angelegenheit an die Grosse Kammer verwiesen werden kann oder nicht.
«Das Bundesamt für Justiz wird das Urteil analysieren und nach Rücksprache mit den betroffenen Behörden prüfen, ob die Schweiz den Fall an die Grosse Kammer des EGMR verweisen sollte», sagte ein Sprecher gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF.
Ein aktueller Fall, in dem die Schweizer Regierung von dieser Möglichkeit Gebrauch machte, war im November 2023, als der EGMR im Juli 2023 zugunsten der südafrikanischen Mittelstreckenläuferin Caster Semenya entschieden hatte. Die intersexuelle Semenya hatte sich geweigert, eine Hormonbehandlung zur Senkung ihres Testosteronspiegels durchzuführen, um an grossen internationalen Wettkämpfen teilnehmen zu können.
Der Court of Arbitration for Sport (CAS) in Lausanne und das Schweizer Bundesgericht hatten zuvor ihre Klagen gegen die Bestimmungen abgewiesen. Semenya selbst hat zugegeben, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie noch einmal einen Wettkampf auf höchstem Niveau bestreiten wird, aber die Grosse Kammer des EGMR hat das Potenzial, einen Präzedenzfall für andere wie sie zu schaffen.
Editiert von Reto Gysi von Wartburg, Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris
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